Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Paris ist weit weg

Tsai Ming-Liangs Verbeugung vor der Nouvelle Vague

Ein alter Mann sitzt in seiner tristen Wohnung, starrt traurig die Wand an. Wortlos geht er auf den Balkon, um zu rauchen und seine Pflanze zu betrachten. Dann ist der Mann nicht mehr da. Seine Reste werden in einer Urne bestattet. Seine Frau und sein Sohn scheinen mit dem Verlust nicht zurechtzukommen. Obwohl der Sohn schon erwachsen ist, hat er Angst in der nächtlichen Wohnung. Er traut sich nicht, zum Pinkeln auf die Toilette zu gehen. Der Geist des Toten könnte zurückgekehrt sein. Eine Plastiktüte dient als Notbehelf.

Aber das Leben geht weiter. Der Sohn Hsiao Kang muß wieder an seinen Straßenstand, um Uhren zu verkaufen. Dabei begegnet er einer jungen Frau, die sich am nächsten Tag auf die Reise nach Paris machen will und deshalb eine Uhr mit doppelter Zeitangabe sucht. Schließlich wird sie ihm seine eigene Uhr abschwatzen können, ein besonderes Andenken an die Heimat. Paris ist weit weg, zumal wenn man aus Taiwan kommt.

Hsiao ist von dem Zusammentreffen so beeindruckt, daß er sich bei der Auskunft nach der Pariser Zeit erkundigt: What Time Is It there? ist die Frage, die Ungewöhnliches ins Rollen bringt. Und sie ist der Titel des Films von Tsai Ming Liang. Denn nach deren Beantwortung stellt Hsiao sämtliche Uhren im Haus um. Selbst in einem Geschäft verstellt er sämtliche Wecker, und auch eine Kinouhr wird seiner neuen Zeit angeglichen. Die Mutter allerdings deutet die Aktion anders: Sie glaubt, der Vater sei als Geist zurückgekehrt, und paßt die Mahlzeiten der neuen Zeitrechnung an.

Was dann passiert, ist seltsam. Trotz der riesigen Entfernung scheinen der junge Mann und das Mädchen stark verbunden zu sein, ohne eine Ahnung davon zu haben. Als Hsiao die Uhr eines großen Gebäudes auch noch verstellt, macht er nach getaner „Arbeit" ein Picknick auf dem Dach mit französischem Wein. Er betrinkt sich, während Shiang in Paris kotzt. Er leiht sich ein Video aus: Sie küßten und sie schlugen ihn. Kurz danach trifft sie den Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud auf einem Friedhof. Hsiao und Shiang, so merkt man, gehören eigentlich zusammen, aber da ist eine Menge Meer dazwischen. Und auch eine Menge Introvertiertheit. Wahrscheinlich würden sie ihre Verbindung noch nicht einmal bemerken, wenn sie sich kennen würden. Sie haben sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet und lassen sich treiben.

Es geht um Zeit, Übernatürliches, Tod und Einsamkeit und natürlich die Liebe oder vielmehr deren Unmöglichkeit. Zugleich ist der Film eine Verbeugung des Regisseurs Tsai Ming-Liang vor der französischen Nouvelle Vague, die vor 40 Jahren genau diese Themen verhandelte. Und wie seine Vorbilder entläßt What Time Is It There? den Zuschauer mit einem vagen Gefühl, daß doch noch eine Wendung zum Guten geschehen könnte. Aber nur vielleicht, wie im richtigen Leben.

Ingrid Beerbaum

> „What Time Is It There" von Tsai Ming-Liang kommt am 12. Juni in die Kinos.

 
 
 
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