Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903

5. Juni bis 2. Juli

Beim Beschneiden der Weinranken auf dem Balkon seiner Wohnung Lutherstraße 16 stürzt der Börsenmakler Richard Wernicke von der Leiter und fällt in das Messer, das er in der Hand hält. Er zieht sich so schwere Verwundungen am Unterleib zu, daß er in einem Krankenhaus seinen Verletzungen erliegt.

Zu einer gründlichen Reinigung wäscht sich die 16 Jahre alte Arbeiterin Meta Zielka, die bei ihren Eltern in der Pankstraße 42 wohnt, Kopf und Haar mit Spiritus. Als sie dem Feuer in der Kochmaschine zu nahe kommt, entzündet sich das spiritusgetränkte Haar, und die Flammen verbreiten sich so schnell, daß die Ärmste bald am ganzen Körper lichterloh brennt. Das Angst- und Schmerzensgeschrei der Unglücklichen erfüllt das Haus, der Vater versucht, das Feuer zu ersticken, bevor es unheilbaren Schaden anrichtet. Obwohl sich der Mann ohne Rücksicht auf seine eigene Person seiner Tochter annimmt und sich bedeutende Brandwunden an den Händen zuzieht, verbrennt das Mädchen am Kopf und am ganzen Körper so schwer, daß es in der Charité bald nach der Einlieferung stirbt.

Die Obduktion der 13jährigen Lina Hoffmann wird in der Leichenhalle von Haselhorst durch den Kreisarzt, Medizinalrat Dr. Jänicke, und den praktischen Arzt Dr. Venediger ausgeführt. Die Staatsanwaltschaft vertritt Dr. Stern, als Rekognoszenten erscheinen der Onkel und Vormund des Mädchens, Monteur Annowski, und dessen Bruder. Die Leichenöffnung ergibt, daß Lustmord vorliegt. Der Mörder streckte das vergewaltigte Opfer durch einen Schlag auf den Kopf nieder und durchstach dann dem betäubten Kind die Hauptader an der rechten Halsseite. Dieser Stich und andere Verletzungen am Gesicht rühren von einem spitzen, dolchartigen Messer her. Das rechte Bein ist kunstgerecht ausgeschnitten worden. Zur Auslösung aus dem Kugelgelenk bediente sich der Mörder entweder eines starken Messers oder eines Beiles. Auch das Becken ist zum Teil zertrümmert. Die Verstümmelung des Körpers wurde erst vorgenommen, nachdem der Tod durch Verblutung eingetreten war, und erinnert an die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz, auch in Bezug auf die Blutleere des Körpers. Das rechte Hosenbein, das über die verstümmelten Teile gelegt wurde, ist nur da blutig, wo es unmittelbar auf der Wunde auflag. Es ist kein Blut mehr durchgesickert, so daß die Schürze, die über das Hosenbein gelegt wurde, sauber blieb. Erst nach der Ausblutung wurde die Leiche eingewickelt und ins Wasser geworfen. Für einen Kampf mit dem Mörder gibt der Befund keinen einzigen Anhalt. Bemerkenswert ist, daß außer dem Rock auch beide Schuhe und Strümpfe fehlen. Das fehlende rechte Bein glaubt man in der Höhe des Fürstenbrunner Weges in der Spree treiben gesehen zu haben. Spandauer und Berliner Beamte suchen jetzt noch einmal beide Ufer ab.

An der Haltestelle St. Hubertus im Grunewald hält des Nachmittags ein aus Motor- und zwei Anhängewagen bestehender Straßenbahnzug der Linie A der Westlichen Vorortbahn. Als der Schaffner des Schlußwagens bereits das Signal zur Weiterfahrt gegeben hat, kommt auf demselben Gleis ein zweiter Straßenbahnzug herangesaust. Als dieser noch etwa 25 Meter von der Haltestelle entfernt ist und der Vorzug sich bereits in Bewegung gesetzt hat, wird von dem Publikum auf dem Bürgersteig ein Zusammenstoß befürchtet und es werden die Rufe „Los!" und „Raus!" ausgestoßen. Die hierdurch beunruhigten Fahrgäste des Straßenbahnzuges strömen den Ausgängen zu. Während es den Schaffnern der beiden Anhängewagen gelingt, das Publikum auf dem Wagen zurückzuhalten, wird der Schaffner Guseck, der den Motorwagen bedient, vom Kaufmann L. aus Charlottenburg herabgestoßen. Herr L. springt selbst herab und reißt seine Mutter, die 66 Jahre alte Witwe Ida L. aus Wien, von der Plattform mit herunter. Beide kommen zu Fall. Frau L. gerät unter die Plattform des ersten Anhängewagens und mit dem rechten Bein unter den Schutzrahmen. Der Wagen muß angehoben werden, um die Frau aus ihrer Lage zu befreien. Die Verunglückte wird ins Charlottenburger Krankenhaus gebracht, woselbst der Fuß am Knöchel abgenommen werden muß. Der zweite Straßenbahnzug kam acht Meter vor der Haltestelle des ersten Zuges zum Stehen.

Falko Hennig

 
 
 
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