Ausgabe 05 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Gehe nicht über Los

Pragmatismus versus Bürokratie: Aufenthalt in Deutschland

Laut Artikel 16 des Grundgesetzes ist die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aufkündbar. Das hebt ihren ideellen Wert. Ob man sie erlangt, hängt glücklicherweise nicht immer von der Eigenmächtigkeit bockiger Bürokraten ab, sondern liegt bisweilen auch im eigenen Ermessen.

Ein Libanese stellt 1995 einen Asylantrag. Wie sich herausstellt, ist er ohne Ausweispapiere nach Deutschland eingereist und verfügt lediglich über eine Aufenthaltsgestattung mit räumlicher Beschränkung auf den Landkreis Uckermark. Der Aufforderung, gültige Papiere der Republik Libanon vorzulegen, kommt er erst ein Jahr später nach; leider weichen Nachname sowie Geburtsdatum in dem unsignierten Reisepaß von seinen eigenen Angaben ab, sein Antrag wird abgelehnt.

1999 meldet er die Eheschließung mit einer Berlinerin an. Hierzu beantragt er vermittels eines Dolmetschers, da er selbst des Deutschen nicht mächtig ist, die Befreiung von der Beibringung eines Ehefähigkeitszeugnisses. Die Verlobten unterschreiben ferner Erklärungen, daß ihre Ehe ausschließlich der damit verbundenen Lebensgemeinschaft dienen soll. Daß sie sich untereinander nicht verständigen können, macht die Behörde stutzig. Die Berlinerin wird um Angaben angeschrieben, wann und wo man sich kennengelernt, wann den Entschluß zur Hochzeit gefaßt habe. Da sie nicht reagiert, wird auch dieser Antrag abgelehnt. Wer bei derlei vergleichsweise ernsthaften Angelegenheiten nur halbherzig schummelt, kann nicht mit Erfolg rechnen.

Etwas anders ist die Situation der Eheleute Jytte und Béla. Beide leben seit 1992 in Deutschland, jene kam als Studentin aus Kopenhagen, dieser als Musiker aus Budapest. Sie lernten sich kennen und verliebten sich rasch. Bald bezogen sie, arm aber glücklich, eine gemeinsame Wohnung und lebten in wilder Ehe. Zu einer Eheschließung sahen sie keinen Anlaß, stellten aber in Aussicht, daß Jytte Béla zum Manne nähme, so man ihn eines Tages ausweisen wolle. Dies drohte 1997. Jytte bemühte sich daraufhin um die deutsche Staatsbürgerschaft, die hierzulande auf dem Blutprinzip (ius sanguinis) basiert. Da ihr Vater Deutscher ist, war ihre Einbürgerung mit nur geringen Komplikationen möglich. Die Behörden müssen nicht wissen, daß sie ihren dänischen Paß behalten hat, was wiederum für das Königreich Dänemark mit seinem Bodenprinzip (ius soli) kein Problem darstellt.

Weder der Standesbeamtin noch Béla schwante aber, daß sich Jytte einige Wochen vor der Eheschließung neu verlieben würde. Wenige Tage später beendeten die Vermählten ihre Beziehung, Jytte zog bald aus, blieb Béla aber, was ihre faktische Scheinehe betraf, treu. Dieser hat, spätestens nachdem ein Sozialbeamter ihn in ihrer offiziellen Wohnung aufsuchte, dafür Sorge zu tragen, daß stets einige Höschen und Tampons verstreut liegen. Seit einem Beschluß des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21.März 2000 sind derlei Überprüfungen allerdings nur noch zulässig, wenn ein „triftiger Grund" vorliegt.

Jytte lebt mittlerweile in einem anderen Bundesland, wodurch es ihr unmöglich ist, etwa Sozialhilfe zu beantragen. Wie der Zufall es will, planen die beiden, demnächst wieder zusammenzuziehen, wodurch sich vieles vereinfachen würde. Wann sie sich endlich scheiden lassen können, ohne daß er des Landes verwiesen wird, ist noch immer ungewiß.

Ein amtliches Phänomen entgegengesetzter Art widerfuhr dem Baschkiren Rafael. Dieser zog mit seiner Mutter Mitte der achtziger Jahre in die DDR. 1990 wurde sein sowjetischer Ausweis durch den Zusammenbruch seiner Heimatunion ungültig. Nun bekam er aber nicht automatisch einen russischen, sondern vielmehr einen Staatenlosenpaß der BRD. Bis auf die blaue Farbe gleicht dieser einem deutschen Reisepaß. Dessen Aushändigung war an die Auflage geknüpft, Deutschland für sechs Jahre nicht zu verlassen. Sowohl Rafael, der sich an keine Begründung erinnern kann, als auch Ausländerbehörde und Einwohnermeldeamt sehen sich heute außerstande, diese Bedingung zu erläutern.

Freilich ist Rafael in jenen Jahren durch Europa getourt, hat jedoch insbesondere auf den Rückreisen Grüne Grenzen bevorzugt, um nicht Gefahr zu laufen, ins Niemandsland abgeschoben zu werden. All das sei mitunter reizvoll gewesen, habe seinen Glauben an die Kompetenzen von Verwaltungen nicht eben gestärkt. Obwohl er sein Architekturstudium in Deutschland absolvierte, bleibt er ohne Staatsbürgerschaft, da er zum einen befürchtet, daß die bürokratische Rangelei unangenehmer sei als sein gegenwärtiger Status, und er sich zum zweiten zuvor um eine feste Anstellung bemühen müßte.

Der Petersburger Maler Sascha weist jegliche administrative Bedrohung von sich. Nach seiner Einreise nach Deutschland 1991 besetzte er eine Wohnung, verscheuerte seine Bilder privat und wäre offiziell kaum erfaßbar gewesen, hätte er ein weniger ausschweifendes Leben geführt. Eines Abends 1995 fühlte er sich bemüßigt, mit einem jüdischen Freund aus Lemberg Terrorist zu spielen und einigen PKWs in der Innenstadt schwarze Davidsterne aufzusprühen. Darunter war auch ein parkender Streifenwagen, zudem noch mit zwei Beamten darin, die empört ausstiegen und die Delinquenten beiführten. Die russische bzw. ukrainische Herkunft wurde ihnen auch abgenommen, obwohl Sascha sich nicht als Russe, sondern als Bürger der Freien Republik Wendland ausgewiesen hatte.

Dieser Ausweis wurde erstmals im Februar 1980 als Passierschein zu einem Hüttendorf ausgestellt, das etwa 5000 AKW-Gegner am Tiefbohrloch 1004 für das Atommüllager Gorleben errichtet hatten. Tatsächlich gab es in jenem Kleinstaat eine Verwaltung, Lebensmittelhandel, Veranstaltungsräume, eine Krankenstation und anderes. Sascha ist dort nie gewesen, er hatte den Paß in der Leipziger Hausbesetzerszene erhalten, was er reibungsloser wähnte, als Bemühungen um einen Asylantrag anzustrengen. Daß man Sascha und seinen Freund damals tatsächlich als Touristen vom Revier entließ, muß einer ungeahnten Kulanz bei den Beamten gegenüber besoffenen Fußgängern geschuldet sein.

1998 wurde Sascha nun doch abgeschoben, schloß alsbald in St. Petersburg eine Liebesehe mit Andrea, Autorin aus Mecklenburg, zu der bereits in Deutschland innige Bande bestanden hatten. Obwohl die Lebenshaltungskosten hierzulande erheblich höher liegen, zogen Andrea und Sascha wieder nach Deutschland. Wo man die Spielregeln kenne und seine Gegner einschätzen könne, ließe es sich aushalten, erklärt Andrea. Die Bundesrepublik sei in dieser Hinsicht nicht das schlechteste.

Roland Kirberg

 
 
 
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