Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kein Hohn, kein Mitleid, nur Zorn

Das Babylon zeigt Filme von Peter Nestler

Jean-Marie Straub bezeichnete ihn 1968 als den „wichtigsten Filmemacher in Deutschland nach dem Kriege". Der seit den sechziger Jahren in Schweden lebende Dokumentarfilmer Peter Nestler findet hierzulande gleichwohl nur wenig Beachtung. Dabei sind Nestlers Filme notwendige Kontrapunkte, ja geradezu Gegengift in einer Zeit, in der für sogenannte Doku-Soaps sogar Krankenhaus-Patienten vor die Kamera gezerrt werden und nicht einmal selbst etwas dabei finden. Die Arbeit in der Kinderfilm-Redaktion des schwedischen Fernsehens war für Nestler die Grundlage, sein filmisches Oeuvre weitertreiben zu können, nachdem er in Deutschland in Ungnade gefallen war und die Realisierung weiterer Filmprojekte nicht mehr möglich schien.

Der 1965 gedrehte Film Von Griechenland, der im Jahr darauf in Oberhausen für einen Skandal sorgte, brachte ihm einerseits den Vorwurf „kommunistischer Propaganda" ein; die Kollegen in Oberhausen wiederum fanden ihn amateurhaft, weil er auf O-Töne verzichtete, gegen die „stummen" Bilder eine autonome Tonspur mit einem Sprechertext setzte. Zwei Jahre nach den Dreharbeiten zu dem Film, der mit den Worten „Der Faschismus muß überwunden werden" endet, kam es dort zur Machtergreifung der Militärjunta.

Jedenfalls konnte Nestler, dem schon Mülheim/Ruhr (1964) großen Ärger eingebracht hatte ­ die Stadt fühlte sich verunglimpft ­, danach in Deutschland nicht mehr arbeiten. Für das schwedische Fernsehen konnte er 1967 Im Ruhrgebiet realisieren. „Nestler gestattet dem Zuschauer keinen Hohn und kein Mitleid, nur Zorn", schrieb Enno Patalas damals über diesen Film. Jürgen Ebert beschreibt Nestlers Kamera als eine aufzeichnende und eben nicht beobachtende: „Das Beobachten verfolgt immer schon die Zwecke der Objektivität, das Aufzeichnen dagegen ist die Subjektivität und der Gegenstand der Beobachtung in einem."

In den folgenden Jahren drehte Nestler zusammen mit seiner Frau Zsóka, die für den Ton verantwortlich zeichnete, eine Reihe von politisch engagierten Filmen wie Bilder von Vietnam, Spanien!, Chilefilm oder Dürfen sie wiederkommen ­ Über neofaschistische Tendenzen in Westdeutschland. Nestlers Motto, demzufolge das Thema wichtiger ist als die Kunst, sollte nicht zu der Annahme verleiten, seine Filme seien nicht formal hoch reflektiert; ungehobelte filmische Pamphlete waren seine Sache nie. Daneben entsteht eine Reihe von didaktischen Filme über verschiedene Produktionszweige für das Kinderprogramm des schwedischen Fernsehens: Über das Aufkommen des Buchdrucks oder Wie macht man Glas ­ Filme, welche die Ambivalenz des technischen Fortschritts aufzeigen, wie Stefan Hayn bemerkt.

Seit den neunziger Jahren sind fünf abendfüllende Dokumentarfilme entstanden, die nun den Kern der Nestler-Retrospektive im Babylon bilden. In Flucht (2000) rekonstruiert Nestler die Emigrationsgeschichte des jüdischen Malers Leopold Mayer; in Die Nordkalotte (1990) geht es um den Erzabbau in Lappland, der die Lebensgrundlagen der agrarisch lebenden Bevölkerung bedroht. 1988 ist Peter Nestler nach Deutschland zurückgekehrt, um einen Film über die Frankfurter Judengasse zu drehen. Die Judengasse konfrontiert Archivmaterial mit der Baustelle, die die letzten Reste des jüdischen Viertels unter sich zu begraben droht.

Florian Neuner

> „Retrospektive Peter Nestler", vom 9. bis zum 17. Mai im Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30, Mitte. Am 9. und am 10. Mai ist Peter Nestler anwesend.

 
 
 
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