Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kurzkultur

torkeln

In seiner Reise nach Petuschki bewies Wenedikt Jerofejew, welche Dissidenz in konsequentem Delirismus liegen kann: der Rausch als ein Akt des Aufbegehrens in einer Welt, deren einziges Trachten der Disziplinierung von Körper und Geist gilt. Auch in Jerofejews Stück Die Walpurgisnacht tritt ein überzeugter Alkoholiker auf: Gurewitsch erscheint hier wie ein Erlöser, als er ­ in eine Irrenanstalt samt brutalem Pflegepersonal eingeliefert ­ in der Nacht zum 1. Mai eine riesige Flasche Alkohol stiehlt. Das zu sehen, rechtfertigt sogar, eine Reise zum Kudamm zu machen, besser noch: dorthin zu torkeln.

> „Die Walpurgisnacht oder die Schritte des Komturs", Regie: Árpád Schilling, am 25. Mai um 18 Uhr und am 29. Mai um 20 Uhr in der Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Charlottenburg

mörteln

Daß irgendjemand aus irgendeinem Grund die Mauer wieder zurückhaben will, ist häufig in Ost wie West zu hören. Nun gibt es die Möglichkeit, die Lust an der Geschichtsrevision spielerisch auszuleben. Nach der „Faltplatte" gibt es jetzt auch die Faltmauer. Andreas Seidel und Jürgen Schnirch haben vier Bausätze, erhältlich zum Preis von jeweils 4,95 Euro, für eine „zeitgenössische Berliner Mauer" im Maßstab 1:40 kreiert. Zeitgenössisch deshalb, weil die auf der westlichen Mauerseite gepflegte Graffiti- und Protestkultur ins Heute verlängert wird. So zeigt ein Mauerteil „No War"-Protest mit den Visagen von Bush und Blair, während sich auf einem anderen Segment fiktiver Protest gegen die korrupten Herren von der Berliner Bankgesellschaft regt.

> Informationen: www.xzcute.com, die Bausätze sowie Postkarten mit den Mauermotiven sind u.a. erhältlich bei Edelramsch in der Oranienburger/ Ecke Krausnickstr. und im Georg Büchner Buchladen in der Wörther Str. 17

fremdeln

Eigentlich ist das Quasimodo ein recht straighter Jazz-Club. Wie kommt dann ein Singer-Songwriter wie David Poe samt Band, dessen Schlagzeuger auch schon beim eher Hardcore-orientierten Henry Rollins spielte, nun in diesen Club? Ein Grund dürfte das neu erschienene Album von David Poe sein, denn dort bewegt er sich mit seiner Combo gekonnt zwischen Jazzballade und Elektrofolk, so daß der Auftritt im Quasimodo doch nicht ganz so befremdlich erscheint.

> David Poe und Band am 12. Mai um 22 Uhr im Quasimodo, Kantstraße 12, Charlottenburg

gimpeln

Osatasiatische Nacktkatzen und kurzbeinige Windhunde locken heute wohl niemanden mehr in Zuchtausstellungen. Der Wedding, der ansonsten eher mit phantasievollen Promenadenmischungen aufwartet, hat sich jetzt was Neues ausgedacht: eine internationale GuppyAusstellung. In rund 250 Aquarien lassen sich je drei Guppies beschauen, die im Anschluß gekürt und versteigert werden. Doch wer auf ein kleines Schnäppchen für seinen originellen Raumteiler hofft, sollte gewarnt sein: Sammler geben angeblich bis zu 160 Euro für drei kleine Fische aus. Damit alles mit rechten Dingen zugeht, entsenden die Landes-Guppyvereine Beobachter. Soziologen sollten die Besucher unter die Lupe nehmen.

> Die Internationale Guppyausstellung „Kleine Fische" im Rahmen der Kolonie Wedding eröffnet im Glaskasten, Prinzenallee 33, am 16. Mai um 20 Uhr und ist am 17. Mai von 19 bis 22 Uhr zu sehen. Am 18. Mai um 10 Uhr werden die Zuchterfolge gekürt und um 15 Uhr versteigert.

metzeln

1977 wurden 14 Mitglieder des unabhängigen Betriebsrates des Mercedes-Werkes in González Catán (Buenos Aires) von Handlangern der argentinischen Militärdiktatur entführt und ermordet. Die Journalistin und Filmemacherin Gaby Weber recherchierte, wie die Gewerkschafter ins Visier der Todeskommandos gerieten und wer aus dem Unternehmen dafür Veranwortung trug.

> Der Dokumentarfilm „Wunder gibt es nicht – Die Verschwundenen von Mercedes-Benz" (Argentinien 2003) läuft am 27. Mai um 20 Uhr im Regenbogenkino, Lausitzer Straße 22, Kreuzberg

künsteln

„Am Rande des Prenzlauer Berges (dort, wo er nicht mehr schön ist)" ­ so die Selbstbeschreibung ­ befindet sich seit zehn Jahren die Spielstätte für Puppen- und Figurentheater, die SCHAUBUDE, die nicht nur die Allerkleinsten zu erfreuen sucht, sondern auch ein mal poetisches, mal groteskes Abendprogramm für Erwachsene anbietet. In diesem Monat veranstaltet die SCHAUBUDE ein internationales Objekttheaterfestival in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, dem Kesselhaus in der Kulturbrauerei und den Sophiensälen.

> Das „Theater der Dinge" findet vom 15. bis 22. Mai statt. Informationen in der SCHAUBUDE, Greifswalder Straße 81-84, Prenzlauer Berg, fon 4234314

rätseln

Dem aufmerksamen S 2-Benutzer sind sie vielleicht aufgefallen: kleine Interventionen in Waggons, Bahnhöfen und Umgebung. Augenblicke der Verwirrung für den Uneingeweihten: Die transportale versucht dem gemeinen ÖPNV-Nutzer Kunst gleichsam unterzujubeln. Diese zum zweiten Mal gemeinsam mit der S-Bahn Berlin initiierte Ausstellung von Kunst im öffentlichen Raum vereint 15 recht unterschiedliche Künstler unter der Prämisse des unerwarteten Spiels mit dem Passanten. Aus nämlichem Grund wird hier von eingehenden Beschreibungen abgesehen. Also Augen und Ohren offen halten,
und zwar in jede denkbare Richtung. Wer nicht von einem spätösterlichen Suchspiel lassen kann, dem sei als Anlaufstelle der Infostand im S-Bhf. Nordbahnhof empfohlen.

> Die „transportale" ist noch bis zum 11. Mai entlang der S 2 zwischen Buch und Lichtenrade zu (über)sehen

vögeln

Die Comiczeitschrift Renate feiert ihre Releaseparty für die 12. Ausgabe ­ aber nur für Menschen ab 18, ist sie doch diesmal der Pornographie gewidmet. Ob sie deshalb gleich jugendgefährdender ist als Walt Disney, lassen wir dahingestellt.

> Comicreleaseparty am 21. Mai ab 21 Uhr im Schokoladen, Ackerstraße 169/170, Mitte

zügeln

Um der irrigen Vorstellung zu entgehen, man selbst sei Herr seiner Sprache, hilft es, sich zu den ohnehin vorhandenen zusätzlich strenge Regeln aufzuerlegen. Klaus Ferentschik schrieb bereits einen Doppelroman, der im ersten Teil nur grammatisch weibliche, im zweiten nur männliche Substantive enthält. Jetzt stellt er seinen Roman Scharmützel vor, der ­ die Geschicke eines Individuums erzählend ­ konsequenterweise nur Substantive im Neutrum zuläßt.

> „Schwelle&Schwall&Scharmützel", eine Lesung von Klaus Ferentschik,
am 19. Mai um 20 Uhr im Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23,
Charlottenburg

 
 
 
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