Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903

Die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums hält am 31. April im großen Saal des Langenbeck-Hauses ihre erste Mitgliederversammlung ab. Außer dem Vorstand des Vereins hat auch die Ärztekammer für die Provinz Brandenburg und den Stadtkreis Berlin geladen und zur Sitzung ihre Vertreter gesandt. Einleitend berichtet der Vorsitzende Professor Sommerfeld, daß vom Dezernenten des Kultusministeriums ein Sympathieschreiben eingelaufen sei, in dem eine weitgehende Unterstützung der Bestrebungen des Vereins zugesagt werde. Der Vortragende des Abends, Herr Dr. Hirschfeld-Berlin, weist nach, daß der Begriff der Naturheilkunde durch die Vertreter derselben als ein unrichtiger in das Publikum hineingetragen und für sie selbst ganz unberechtigt monopolisiert sei. Die Methoden des Naturheilverfahrens stünden vollkommen dem reichen Arzneischatz der Ärzte zur Verfügung, so daß ein jeder Arzt im wahren Sinne des Wortes „der Naturarzt" sei. Der Referent schließt mit der Mahnung an die Anwesenden, an der Kulturarbeit der Gesellschaft gegen Aberglauben und Volksverdummung teilzunehmen.

Zur Feier des 1. Mai finden vormittags in Berlin und Umgebung 52 Gewerkschafts-Versammlungen statt. Den stärksten Besuch hat die Gruppen-Versammlung der Holzarbeiter in der „Neuen Welt" in der Hasenhaide aufzuweisen, wo der Abgeordnete Bebel spricht. Ebenfalls stark besucht ist die Versammlung der Metallarbeiter im Feenpalast mit dem Abgeordneten Singer als Referenten. In und vor den Versammlungs-Lokalen haben sich zahlreiche Händler eingefunden, die Festzeitungen, rote Nelken, Flugschriften usw. vertreiben. Das Polizeiaufgebot ist gering. Seitens verschiedener Vereine und zahlreicher loser Gruppen werden Ausflüge veranstaltet. Besonders groß ist der Andrang auf dem Schlesischen Bahnhof zu den Vorortzügen nach Friedrichshagen, wohin zwei Extrazüge abgelassen werden müssen. Nachmittags und abends finden in etwa 16 Lokalen die Parteifeiern mit Konzert, Ansprachen und Ball statt.

Der neue Spezialzug für den holländischen und englischen Verkehr, den Minister Budde geschaffen hat, ist am 1. Mai, dem Tag seiner ersten Abfahrt von Berlin, gut besetzt. Schon in seiner äußeren Gestalt stellt sich der Zug als ein Elitezug dar. Die Bahnverwaltung hat ihre neuesten D-Wagen eingestellt, und die Schlafwagengesellschaft einen neuen Speisewagen beigefügt. Der Zug geht von der Friedrichstraße 11.40 Uhr vormittags, vom Zoologischen Garten 11.50 Uhr usw. über Hannover, Hamm, Essen usw. Er trifft 8.05 Uhr morgens in London ein und bietet eine schnelle Verbindung mit London für die Reisenden, denen der 11.01 Uhr von Bahnhof Friedrichstraße abfahrende Luxuszug über Ostende zu teuer ist.

Der Insterburger Personenzug, der Berlin am 2. Mai um 5 Uhr morgens erreicht, und am Bahnhof Friedrichstraße 5.14 Uhr eingefahren ist, steht im Begriff, nach seinem Endziel, der Station Charlottenburg abzugehen, als die Halle ein wirres Schreien und Rufen durchgellt. Im nächsten Augenblick fährt mit furchtbarem Krach auf den haltenden ein anderer, der Vorortzug 1302 Erkner-Potsdam, auf. Der letzte Wagen des Fernzuges, ein Waggon IV. Klasse, wird von der Lokomotive des Vorortzuges emporgehoben und sitzt mit seiner Hinterachse auf der Maschine, während der vordere Teil gegen das Dach des nächsten Waggons III. Klasse drückt und so die Abteile in ihrem ganzen oberen Teil zerquetscht. Ringsum Schmerzensrufe, blutende Gesichter und dazu ein Toter, ein junger Mensch, der zwischen dem letzen und vorletzten Wagen hervorgeholt wird. Jener junge Mann ist der im Jahre 1886 zu Klagenfurt geborene Artist Hans Mühlfeith.

Unter den fünf Verletzten befindet sich eine Frau. Sie werden alle in das Bureau des Stationsvorstehers geführt, das bald den Eindruck eines kleinen Lazaretts gewährt. Bis auf einen, den an ein hiesiges Theater engagierten Schauspieler Wilhelm Bracht aus Düsseldorf, können alle, nachdem sie verbunden sind, ihre Reise fortsetzen. Nur Herr Bracht, der eine Quetschung der rechten Schläfenseite erlitten hat, wird in die Universitätsklinik gebracht. Mit leichteren Kopfverletzungen sind der Sänger Karbes aus Hamburg, Albert Millzasch aus Horsthausen und Wilhelmine Nissen aus Husum davongekommen. Bei Otto Meyer aus Sofferda wird eine Quetschung der Hüfte festgestellt.

Falko Hennig

Eisenbahnunglück
Foto: Archiv Hennig

Mangels einer Photographie des aktuellen Eisenbahnunglücks hier die rare Aufnahme des Zusammenstoßes bei Norton Fitzwarren, wo im November 1890 in der Nähe von Taunton der von Plymouth kommende Schnellzug auf einen Güterzug auffuhr, fünf Südafrikaner und vier Kartenspieler wurden dabei getötet.

 
 
 
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