Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Jenseits vom Dispo

Das zweitälteste Gewerbe der Welt

Ein junger Mann will mit seiner frischen Geliebten aus Hamburg soupieren und dies ohne die allgegenwärtige Berliner Armut. Da es in Banken keinen Kredit mehr gibt, nimmt er seinen MD-Player und trägt ihn zum Leihhaus. Das gleiche hat er im vergangenen Jahr schon zweimal getan und je sechzig Euro bekommen. Diesmal aber bietet ihm der Mann hinter dem Gitter nur dreißig. Bei einer Auktion habe ein ähnlicher Apparat, den jemand nicht mehr abgeholt hatte, nur dreißig Euro eingebracht, obwohl er mit fünfzig beliehen war. Der junge Mann akzeptiert, zumal somit pro angelaufenem Monat nur 1,80 Euro an Zinsen anfallen; bei sechzig Euro wären es 2,50. Hinzu kommt noch eine Leihgebühr von achtzig Cent.

Manch einer sieht den Pfandleiher in der Nähe von Bankrottverwaltern oder Totengräbern, die vom Niedergang anderer profitieren; der sich die Hände reibt, wenn ein Kunde den Eindruck vermittelt, sein Tafelsilber nicht wieder abholen zu können. Verkauf oder Versteigerung der Pfandware bringt aber oft nicht einmal die Leihsumme wieder ein, daher die große Kulanz bei der Fristverlängerung. Der MD-Player wird regulär für drei Monate aufbewahrt. Ist der junge Mann dann immer noch klamm, kann er ohne weiteres verlängern oder davon ausgehen, daß er ihn, ohne sich zu melden, auch nach vier, gar sieben Monaten wieder auslösen kann; je später desto lieber.

Die allgemeine wirtschaftliche Lage, so Herr Gorm in der Skalitzer Straße, bekäme man auch hier zu spüren; die Zahl der Fälle, daß ein Kunde nicht wieder auftaucht, nehme zu. Und sie täten dies nicht vorsätzlich, dafür lohne sich die Leihsumme in der Regel nicht.

Manchmal geht es um Heiße Ware. Wenn die dann abgelehnt wird, geschehe das aber nicht aus moralischen oder gesetzlichen Bedenken. Ein Junky habe vor einigen Wochen zwei nagelneue DVD-Player angeboten und wüst gegen die Scheibe gefuchtelt, nachdem er abgewiesen wurde. Es ist keine übertriebene Vorsicht, daß immer Sicherheitsglas oder ein Gitter den Pfandleiher vom Kunden trennt.

Keine Kundschaft, vermutet Frau Beau aus einem der Leihhäuser in der Joachimsthaler Straße, sei so heterogen wie ihre. Sie könne auch nach 17 Jahren Berufserfahrung nicht sagen, welche Altersgruppe, Sozialisation oder welches Geschlecht stärker vertreten sei. Tatsächlich sitzen die meisten Pfandleiher nicht im Wedding oder Neukölln, sondern in Charlottenburg. Trotz allem reiht sich der Neukunde bei den Verzweifelten ein, die auf dem letzten Loch pfeifen. Damit Nachbarn oder Freunde ihn nicht durchs Schaufenster erkennen konnten, befanden sich Leihhäuser ursprünglich, als es sie in Berlin in fast jeder Straße gab, meist im Hinterhaus oder im ersten Stock.

So wie heute noch das Leihhaus Bartsch im Wedding. Auf Fragen nach dem Tagesumsatz, ungewöhnlichen Zwischenfällen oder ob man fotografieren dürfe, reagiert Herr Bartsch scheu. Nur soviel erzählt er, daß an guten Tagen über 100 Kunden hereinkommen ­ mit den Jahren, selbstredend, immer weniger.

Am 26. April 1692 öffnete die erste „Churfürstliche Pfand- und Creditanstalt" in der Friedrichstraße. Die Verwaltung wurde dem Hugenotten Nicolas Gauguet übertragen, Verkündungen in Deutsch und Französisch angebracht. Letzteres wurde mittlerweile durch Türkisch verdrängt, ansonsten hat sich am Verfahren des Leihwesens wenig geändert, weil es denkbar einfach ist: Wer schnellen Kredit will, braucht einen Wertgegenstand, den er entbehren kann, und seinen Paß. Verhandelt wird nicht, es gibt eine verbindliche Preisliste, nach der die Pfandware eingestuft oder abgelehnt wird.

In den Berliner Gelben Seiten findet man heute 23 Leihhäuser, das älteste existente Leihhaus „Am Görlitzer Bahnhof" besteht seit 1875. 1910 dagegen gab es nahezu fünfzehn mal soviel. Im letzten Jahr haben sich bundesweit etwa 1,5 Millionen Bürger insgesamt 370 Millionen Euro geliehen. Trotzdem finde ich im Bekanntenkreis kaum Kenntnis über jene Möglichkeit prompter Hilfe, die doch laut Herrn Gorm so unkompliziert und manchmal segensreich ist.

Roland Kirberg

 
 
 
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