Ausgabe 04 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Mein palästinensischer Nachbar ­ MpN

Texte aus dem Knast (II)

Lange habe ich gedacht, eine hohe Haftstrafe und der Verlust der Existenz wären wirklich tiefgreifende Probleme. Seit ich meinen palästinensischen Nachbarn durch intensive Gespräche besser kennengelernt habe, hat sich meine Meinung geändert.

Seine Eltern wurden 1948 aus Palästina vertrieben und lebten viele Jahre im Libanon. MpN wurde dort in einem Flüchtlingscamp der UNO geboren. Er hatte noch vier Brüder und zwei Schwestern. Nachdem er mit 15 Jahren einen Schulabschluß machte, begann er eine Tischlerlehre. Militärische Kampfausbildungen liefen seit frühester Kindheit parallel. Kurze Zeit nach seiner Gesellenprüfung wurde das Lager von Schiiten angegriffen, mit der Absicht, die Menschen zu verbrennen. Das syrische Militär griff ein und wehrte die Schiiten ab, so gut es ging, außerdem bildeten sie einen Fluchtkorridor zu einem Flughafen, wo die palästinensischen Vertriebenen in UNO-Flugzeugen unverletzt entkommen konnten. Sein Vater schaffte es nicht, eine schiitische Kugel tötete ihn.

In der Nähe des Ruhrgebiets angekommen, bekam MpN einen blauen Paß: Staatsangehörigkeit ungeklärt. Zumindest erhielt er eine Arbeitserlaubnis, was in den Siebzigern noch unproblematisch war. Bereits als Tischler arbeitend, lernte er eine gutbürgerli-che junge deutsche Frau kennen. Eini-ge Monate darauf heirateten sie. Wiederum ein Jahr später wurde ein Sohn geboren. Die Ehe war glücklich, von Liebe und Respekt geprägt. Drei Jahre vergingen, als plötzlich seine Frau an einer tückischen Krankheit starb. Nur zwei Monate danach hatten seine Schwiegereltern einen tödlichen Autounfall.

MpN saß nun allein mit seinem Sohn in der Provinz. Unerfahren und überfordert mit der Erziehung seines dreijährigen Jungen, wandte er sich zunächst an seine Familie, die inzwischen in verschiedenen Ländern lebte. Zwei Brüder waren im Laufe der Jahre bereits im Krieg ums Leben gekommen, seine Mutter kam aus Amerika zu Hilfe. Er arbeitete weiter, um den Lebensunterhalt zu sichern. Nach zwei Monaten schlug seine Mutter jedoch vor, seinen Sohn mit in die Staaten zu nehmen. In seiner Hilflosigkeit stimmte er zu, was er aber in der darauf folgenden Zeit zutiefst bereute.

Er reiste in den Nahen Osten, entschlossen, seinem Volk bei der Rückeroberung seiner Heimat zu helfen. Ausgebildet im Bodenkampf mit MG und Handgranaten, wurde er schnell in eine Truppe integriert. Sie wurde angeführt von einem seiner verbliebenen Brüder, der in den Kriegswirren nun auch noch direkt vor seinen Augen erschossen wurde. MpN landete durch Kriegsgefangenschaft im Gefängnis. In der ersten Zeit gab es hin und wieder etwas Wasser, aber Essen und Decken wurden den 25 Männern erst nach vier Wochen in ihre 20 Quadratmeter große Zelle gegeben. Nach drei grauenhaften Monaten ­ es waren schon zehn Mitgefangene angeklagt und hingerichtet worden ­ ließ man MpN frei.

Er reiste sofort nach Deutschland, nahm Kontakt zu seiner Mutter in den USA auf, um seinen Sohn zurückzuholen. Diese weigerte sich, den Kleinen wieder herzugeben ­ bis MpN eine moslemische Frau kennengelernt und geheiratet hatte. Aus dieser Ehe entstanden zwei Töchter, die die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten, genau wie sein Sohn. Sie lebten einige Jahre zufrieden zusammen, allerdings war die Liebe zu seinen Kindern größer als zu seiner Frau, die ihm das Leben schwer machte.

Mitte der achtziger Jahre wollte es MpN noch einmal wissen, er reiste in den Libanon, um sich von dort aus Klarheit über die Lage in Palästina zu verschaffen. Auf dem Flughafen Beirut angekommen, ließ man ihn nicht einmal
von der Gangway herunter. Alle Überredungskünste (u.a. Bargeld) waren zwecklos: „Wir wollen Sie in unserem Land nicht haben, reisen Sie mit diesem Flugzeug zurück nach Deutschland, sonst wenden wir Gewalt an!" Diese Aussage war deutlich. Er flog zurück.

An seinem 20. Geburtstag fuhr sein Sohn auf einen Kurztrip nach Holland und verunglückte tödlich. MpN hat sich von diesem Schock nie mehr richtig erholt, griff mehr und mehr zum Alkohol, um die Trauer zu lindern. Unnötigerweise ließ er sich auch noch zu Straftaten hinreißen. „Beihilfe zum Drogenhandel" steht im Urteil. Eine Strafe von mehr als drei Jahren (Drogenhandel zwei Jahre) zieht bei Ausländern automatisch eine Abschiebung nach sich. Abschiebung weg vom Grab seines Sohnes. Abschiebung weg von seinen zwei Töchtern mit deutscher Staatsangehörigkeit. Abschiebung in den Krieg. Abschiebung nach Palästina, das nicht existiert. Abschiebung in den Libanon, wo ihm weitere Haft oder der Tod droht. Abschiebung irgendwohin. Hauptsache Abschiebung.

F. K.

> F. K., für Einfuhr von Betäubungsmitteln 13,5 Jahre Haft, Ersttäter, eine Straftat. Zuvor geschäftsführender Gesellschafter eines Bauunternehmens (Altbausanierung).

 
 
 
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