Ausgabe 03 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wie ein Ritter mit sattel-geknufftem Scrotum

Samuel Becketts Fahrrad-Glücksvorstellungen

Es gibt nur ein einziges Photo, auf dem Samuel Beckett zusammen mit einem Fahrrad zu sehen ist. Aufgenommen in den dreißiger Jahren in London, ist das Gefährt freilich nur höchst zufällig ins Bild geraten. In Becketts Frühwerk, auch noch in der Romantrilogie und am Rande im Endspiel tauchen immer wieder Fahrräder auf – als mementi eines besseren Lebens, in dem seine unglücklichen Helden körperlich noch in der Lage waren, sie zu benutzen. Der Literaturkritiker und Übersetzer Friedhelm Rathjen, der gerne in den Wicklow-Bergen vor den Toren Dublins radelt, hat sich in einem kleinen reichbebilderten Buch der Fahrrad-Motivik in Becketts Werk angenommen, dabei manch anregende Beobachtung gemacht, um sich am Ende zu einer überzogenen These zu versteigen.

„Molloys Trennung von seinem Fahrrad ist die erste Stufe eines Zerfalls", schreibt der von Rathjen zitierte Hugh Kenner über den Romanhelden. Rathjen setzt noch eins drauf: „Das Glück von Becketts Helden steht und fällt mit dem Fahrrad." In dem frühen Erzählband Mehr Prügel als Flügel ist das Fahrrad sogar deutlich erotisch besetzt. Belacqua kann einem Fahrrad „unter keinen Umständen widerstehen". Ein Velo, das er im Gras findet, entführt er zu einer spontanen Fahrt; daß seine Freundin sich derweil mit einem Konkurrenten vergnügt, ficht ihn nicht an. In der Erzählung „Das Beruhigungsmittel" wird von einer eigenartigen Vision eines Radfahrers berichtet: „Er fuhr langsam mitten auf der Chaussee, wobei er eine Zeitung las, die er mit beiden Händen aufgeschlagen vor seinen Augen hielt. Von Zeit zu Zeit klingelte er, ohne seine Lektüre zu unterbrechen. Ich schaute ihm nach, bis er nur noch ein Punkt am Horizont war." Rathjen erblickt darin das Idealbild „unbeschwerten Fortkommens", extreme Antithese zur Situation, in der sich Becketts Figuren befinden.

Zumal in der Romantrilogie: Als das Fahrrad, das Mercier und Camier ohnehin nur noch geschoben haben, während eines Kneipen- und Bordellbesuchs bis auf Rahmen und Luftpumpe gestohlen wird, ist der Untergang endgültig besiegelt. Molloy gerät bei Fahrrädern noch ins Schwärmen: „Ich würde es gerne beschreiben, ich würde gerne viertausend Worte darüber sagen." Trotz widrigster Umstände versucht Molloy sich an seinem Rad: „Ich befestigte meine Krücken an der oberen Stange des Rahmens, je eine auf jeder Seite, stützte den Fuß meines steifen Beines auf den herausstehenden Teil der Vorderachse und trat mit dem anderen auf das Pedal. Es war ein kettenloses Fahrrad mit Freilauf, wenn es so etwas gibt." Ja, sagt die Literaturwissenschaft: Beckett könnte in Dublin Räder gekannt haben, bei denen eine Kolbenstange die Kette ersetzt.

Damit nicht genug: Es ist wieder Hugh Kenner, der Rathjen auf die „Newtonsche Idealform rotierender Progression und gyroskopischer Stabilität" bringt, d.h.: Der Radfahrer bewegt sich – in bezug auf die Landschaft, nicht jedoch in Relation zu seinem Rad: „Laufräder, Zahnkränze und Kette bewegen sich unablässig voran und verändern sich doch nicht, weil sie endlos sind." Und dann macht Rathjen noch die Beobachtung, daß man Fahrräder so photographieren kann, daß sie dem Unendlichkeitssymbol (infinity) ähneln. Man kann die Tragweite dieser Beobachtung wahrscheinlich nur ermessen, wenn man auf einer Radtour in den Wicklow-Bergen in den dortigen Pubs ordentlich dem Alkohol zugesprochen hat. Und dann erfahren wir noch, daß Beckett einen Radrennfahrer namens Godeau gekannt haben muß ...

Florian Neuner

> Friedhelm Rathjen: Samuel Beckett & seine Fahrräder. Häusser Verlag, Darmstadt 1996. 24,54 Euro

 
 
 
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