Ausgabe 03 - 2003

berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Der keinen Schlaf findet

Wolfgang Hilbigs verstörender neuer Erzählband

Da ist ein Mann, der nicht schlafen kann, der umgetrieben wird von Erinnerungen und quälenden Gedanken. Da ist die Liebe zu einer Frau, die sterben wird, der er nie zeigen konnte, wie sehr er sie begehrt. Da ist Schuld, da ist die immer wiederkehrende Frage nach der Herkunft. Die Bilder, die Wolfgang Hilbig in seinen sieben kleinen Erzählungen malt, sind bekannt. Sie sind Essenz seiner Romane, Stoff seiner Gedichte. Und doch berühren sie den Leser immer aufs Neue, verwirren, bezaubern. Die Landschaften der Leipziger Tagebauflächen, das Moor, die Brüche, gelbe Asche, rote Erde, das ist unverwechselbar. Wir werden hineingesogen in den Wirbel der Erinnerungen, streichen mit dem kleinen Jungen durch das Moor zu seiner Badestelle, unter deren Wasser sich das Feuer durch den Torf frißt: „Schon kochten schmale Ausläufer des Wassers, schon jetzt war der kleine See so ungewöhnlich warm, daß man glauben mochte, er werde vom Grund her aufgeheizt. Und wenn sich Gewitterwolken in die Senke stürzten, war die ganze Gegend augenblicklich von den sich hoch auftürmenden Fontänen des Wasserdampfes erfüllt, der, je nach Windrichtung, meinem Großvater in seinem Kleingarten die Brille beschlug und der ihn veranlaßte, sich in seiner Laube einzuschließen, bis der Nebel, der die schmalen Wege des Gartens unsichtbar machte, vorbei war und als brandig riechender Tau vom Blattwerk der Obstbäume tropfte."

Wer so den Phänomenen einer vom Menschen vergewaltigten Natur ausgesetzt ist, denkt schärfer. Hilbig umstreicht die Schatten an der Zimmerdecke seiner Kindheit und weiß: „Unwirklichkeit und Schein beherrschten die ganze Gegend. Und ich wußte, daß ich, wie der Lauf der Zeit es wollte, in Kürze erwachsen werden mußte. Aber ich wußte, daß ich auch dann noch nicht, noch lange nicht an die Wahrheiten der Wirklichkeit glauben konnte." Damit ist die Richtung des Denkens und Dichtens vorgegeben; der Mann wird als Heizer arbeiten, wird die Bergwerke von innen, die Öfen von oben und die Nächte in ihrer ganzen Länge kennenlernen. Er wird auswandern und wiederkehren, wird nicht heimisch werden, in Nürnberg, in Berlin, in den Herzen der geliebten Frauen. Er wird nicht an die Wahrheiten der Wirklichkeit glauben können. Seine Gedanken werden um die Mutter kreisen, die Stimmen der Frauen, die in seiner Kindheit damit drohten, ins Wasser zu gehen. Um den fehlenden Vater, den stummen Heizer, um die verpaßten Möglichkeiten des Lebens.

Die erste und die letzte Erzählung des vorliegenden Bandes sind jüngeren Datums, alle anderen entstanden im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Hilbig gelingt in seiner Prosa das seltene Kunststück, mitten in seiner Zeit und doch weit darüber zu stehen. Nachkrieg, DDR und BRD spielen nur eine Rolle als Hintergrundschablonen für die ewigen Fragen des Menschen. Diese Dichte des Zweifels, in atemberaubende Beschreibung geschmiedet, macht Hilbigs Werk unverwechselbar und wertvoll.

Anne Hahn

> Wolfgang Hilbig: Der Schlaf der Gerechten. Erzählungen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 16,90 Euro

 
 
 
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