Ausgabe 03 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

ditte & menschenkind

Natürlich

„Wie herrlich leuchtet mir die Natur", ruft Ditte aus, als ihr Menschenkind im Mondschein begegnet. Menschenkind: „Ditte, was ist los mit dir? Wenn du die Zitiereritis bekommst, ist doch immer was im Busche, oder? Laß uns auf dieser Bank Platz nehmen, in den Mond sehen, uns monden und die Herzen ausschütten." Ditte sitzt schon, sieht den Mond an über dem Tiergarten, der direkt von unserem treuen Trabanten und indirekt vom Potsdamer Platz erleuchtet wird. „Nun", sagt sie und legt ihren Arm um Menschenkinds Schulter, „das ist es ja gerade. Gut, Goethe und so, das steckt schon im Hinterkopf drin, aber als ich
es hinter dir vom Potsdamer Platz aus leuchten sah, wo du ja wohl gerade herkommst, erschien mir die Stadt als Natur und dieses ganze inzwischen anthrazitgraue Grün hier mitten in der Stadt als Unnatur, von Floristinnen hingestellt, die auch die Dachterrassen der Loftwohnungen und Penthäuser begrünen. In diesem Frühling wird mir so anders. Wie sich der Beton erwärmt, wie er zu summen anfängt, es aus den Gullis riecht, wie das unterirdische Rauschen anschwillt. Die blitzenden Glasfronten und die verstaubten Altbaufensterscheiben, all das berauscht mich, während ich für die zahlreichen Frühlingsblüher im Unterholz unserer Stadtparks und Tiergärten nur einen skeptischen Seitenblick übrig habe. Was hältst du von einer solchen Wahrnehmungskrise?"

Menschenkind sieht Ditte gern zu, wenn sie ein Wort dem anderen folgen läßt und das Schleifenband ihrer Worte immer so fein vernestelt, daß die Enden des Schleifenknotens mit einem Fragezeichen nach oben sich öffnen. Diesmal hat er nicht zugehört, sondern nur zugesehen, und er kann ihr so schwer erklären, daß es keine Mißachtung ihrer Gedankengänge ist, wenn er ihnen nicht folgen konnte, sondern der Zauber ihrer Erscheinung. Manchmal sieht er die Bänder direkt vor sich, so verschlungen wie beim Gothaer Liebespaar oder auch kompakt wie Comicblasen. Er lächelt sie an und versucht, in einen Kuß zu fliehen. Ausflucht! Feigheit! Gedankenfäule! Ditte entzieht sich ihm. Erst will sie eine Antwort haben. „Ja, du hast recht", sagt Menschenkind, immer noch lächelnd und inzwischen hoch erotisiert von dem Abwehrgeplänkel seiner Freundin, das sich zu einem Kampf auswächst. „Ich stell dir eine Frage, brauche deinen gedanklichen Beistand, ja, vielleicht sogar eine neue Sicht auf diese Dinge, und du antwortest mir, du hast recht?"

Ditte ist den Tränen nahe, ja, da kommt schon eine gekullert. Und, schwupp, hat sie Menschenkind weggeküßt. „Es ist der Frühling", flüstert Menschenkind Ditte ins Ohr, „da belebt sich die Materie!"

Diese Kurve hat er noch einmal gekriegt. Als sich seine Lippen Dittes Wange näherten, klang in ihm das Wort Beton auf, das doch gefallen war, oder? Der traurige Schleier fällt von Dittes feuchten Augen, die so natürlich noch mehr glänzen im prallen Vollmondlicht. Das Carillon aus dem anderen Filetstück des Tiergartens ertönt, und zwei Wildkaninchen huschen über den silbernen Weg.

„Na, darüber versuche ich doch gerade zu reden. Handelt es sich um eine Wahrnehmungskrise, wenn ich die Stadt als rührende Natur entdecke? Oder ist es eine globale Sensibilisierung angesichts der Schrecken aus der Glotze? Und daß mich das, was die Natur sonst anrührt in mir, diese schaukelnden Blumenköpfchen und das Knospenwachstum, so extrem kaltläßt?" Menschenkind läßt seine freie Hand über Dittes Vorderfront gleiten. „Wahrnehmungskrise hin, Wahrnehmungskrise her. Ich schlage vor, wir gehen jetzt ins Theodor Tucher, da liegt viel Papier herum, und versuchen herauszukriegen, wo in diesem Jahr die Landesgartenschau von Brandenburg sein wird. Oder so etwas in der Art. Da fahren wir mal hin, und dort prüfst du deine Vorurteile. Ich schätze, du kriegst sie bestätigt. Manchmal ist das so. Da wird man von Kultur gerührt. Beton ist Natur, letzten Endes."

Ditte steht auf, läßt sich das Gesicht noch einmal ganz vom Mond bescheinen, reißt Menschenkind hoch und zieht ihn an sich.

„Ja, es ist der Frühling."

Brigitte Struzyk

 
 
 
Ausgabe 03 - 2003 © scheinschlag 2003