Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
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Anarchie ist anstrengend, Demokratie auch

Gerhard Klaus nennt es seine „erlebnisreichste Zeit": die neun Jahre, in denen sich der Rentner in seinem Garten in Frohnau mit Eichhörnchen beschäftigt hat. Er hat darüber ein Buch geschrieben und berichtet, wie er die Tiere mit Nüssen anlockt, wie sie langsam zutraulicher werden, Haus und Garten schließlich als ihr Revier betrachten und verteidigen. Dabei ringt er ständig um neue Bezeichnungen für die Hörnchen: „Kobolde", „Fellbündel", „Fellrüpel". Nun sind Eichhörnchen keine Haustiere, sondern „freilebende Einzelgänger": „Es herrschen recht rauhe Sitten unter den Eichhörnchen!" So müssen Klaus und seine Lebensgefährtin sich eben an die Hörnchen anpassen, ihnen ihre Stammplätze am Tisch freihalten, im Garten auf Nußkuchen verzichten. Das nimmt immer dramatischere Züge an. Ein Junghörnchen macht eines Tages seiner Mutter das Revier im Klausschen Garten streitig: „Wir befanden uns in der Situation des armen Nathan in Lessings Drama, der den Tod seiner Söhne beklagte und mit dem Himmel haderte, doch am Ende für das Findelkind dankbar war, das ihm in den Schoß gelegt wurde." Das Junghörnchen darf bleiben und wird mit Nüssen vollgestopft.

Nach einiger Zeit gelingt es Klaus sogar, die Sprache der Eichhörnchen zu verstehen und ihre „Gefühlswelt" zu „erfassen". In seine Berichte aus dem Garten ist eine Art Tagtraum eingeschaltet, in dem mittels einer Parabel danach gefragt wird, ob an die Stelle der Hörnchen-Privatanarchie mit ihren brutalen Revierkämpfen nicht ein gewaltloses Miteinander treten könnte. In der Geschichte wird von einigen Tieren die Gründung einer „Gemeinschaft unabhängiger Fellgeschöpfe" angezettelt; alle Reviere sollen neu verteilt, ein „allgemeiner Baumfrieden" verkündet werden. Doch schon bald begehren die Weibchen, die „Fellschwestern", auf, die sich in Hörnchen-Utopia mehr Unterstützung bei der Aufzucht ihrer Jungen erhoffen, und fordern fundamentalistisch völlige Gleichberechtigung statt bloßer Reformen; die Fellgemeinschaft zerfällt. Die Lehre kann nur heißen, daß es so auch nicht geht. Aber wie? Das weiß Gerhard Klaus auch nicht, der aber schon zufrieden ist, wenn ihm weiterhin Hörnchen seine Nüsse aus der Hand fressen.

Florian Neuner

> Gerhard Klaus: Abenteuer mit Eichhörnchen. Erlebnisse mit den Kobolden des Waldes. Frieling Verlag, Berlin 1996. 7,40 Euro

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  Ausgabe 2 - 2003