Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
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Aus den Achtzigern zurück in die Zukunft

Warum Musik-Revivals stinken ­ und was daraus folgt

Viele wissen es, andere wissen es nicht. Daß es eine stetige Entwicklung innerhalb des Systems Deutsche Popmusik gab und Alfred Hilsberg als Person für diese Geschichte steht. Gerade hat er es gewagt, neue weiße Kohle unters Volk zu mischen. Die Höllenhunde sind mit ihm durchgegangen und haben ihn über Nacht eine Demonstration von Geräuschen für morgen erstellen lassen. Er fordert es umtriebig noch mal ein, das neue Morgen! Hier wird scharf aufgespannt, der Bogen ächzt: radikal, privat, Poesie, intelligent, kreativ, Blumfeld und Knarf Rellöm als Koordinaten. Tradition in den Referenzkasten mit hinein: wie Kraut, wie Computertech, wie Blues, wie Politik. Knarf Rellöm sagte mal, daß es Quatsch sei, immer wieder diese Trennlinien ziehen zu wollen zwischen Musik/Spaß/Politik. Dies ist Hamburg (nicht Boston), heißt ein L'Age D'Or-Sampler von '89. Erste Geräusche für die Achtziger erschien auf Zick Zack bereits 1980. Diese Labels, die Neue Deutsche Welle, die Hamburger Schule sind mit Hilsberg verwandt. Vorläufer der Entwicklung waren Ton, Steine, Scherben, Amon Düül II, Can, Kraftwerk u.a. Seitdem hat es viele gute Bands gegeben – die leider auf Best Of NDW-Werken nie drauf sind. Die NDW war dennoch eine Zäsur für die Popkultur. MusikerInnen kleiner Labels konnten Popstars werden, wie Andreas Dorau & Die Marinas. Der Untergrund war aufgewühlt. Große Firmen brauchen aber bekanntlich keine guten Bands, sondern große Stars. Erstere blieben somit oft nur sich und ihrem Fanclub verpflichtet. Aufklärung bewirken inzwischen Liedsammlungen/Sampler, wie aktuell: Verschwende Deine Jugend. In den neunziger Jahren erschienen: Sturm & Twang, Wo ist Zuhause Mama?, Camp Imperial, Bessere Zeiten Klingt Gut, Einigen Wir Uns Auf Die Zukunft. Sie stellen bewußt diese selbstbestimmte Popmusik vor, wobei sie scheinbar Abseitiges einer Referenz- und Traditionslinie zuordnen. Labels wie What's So Funny About, AtaTak, SubUp, RecRec, Moll, KittyYo, Fünfundvierzig stehen für diese Politik.

Zukunft wird's oft, wenn es auf der Kippe steht, wacklig auf der Klinge rennt. Und das tut es auf Hilsbergs Zusammenstellung permanent. Es zippt auch mal ganz vorbei am Messer. „Anthrax" von Die Rote Gerda ist so ein Stück, ist nicht infektiös, nicht gruselig. Es bleibt þach, wenn die Homestudioboys auf LoFi-Doom sich nicht trauen ab-, geschweige mitzugehen, Glaube fehlt. Das wiederum ist glaubhaft. Auf der Schneidefläche wabbelig bleibt Saalschutz' „Leerer, Inhaltsloser Ausdruck". Ein Kunstraub bekommt hier Sex und Swing. Ich mag die Dorauschen Frequenzlinien, tabellarisch unterteilt mittels Gesangssprechen. Allein die Titel zu lesen, macht Spaß. Sie fachen nichts an, bleiben einfach Titelprogramme und rennen dahin. Großer schnittiger Fluß, diese Sammelsymphonie. Hilsberg frönt ungebrochen seiner Goldgräbermentalität, mit durchschnittlichen Fördermengen. Das Beste wegzulassen, war wichtig und das Label gut damit beraten, dabei nichts zu glätten. „Hat jemand die Mumie gesehen?" ist kein Titel, paßt jedoch super – als Tatortsoundtrack. Felix Kubins „Schnitzler" unterstreicht die Antidramaturgie. Bis Auf Weiteres Eine Demonstration nimmt 37 Nonhits in sich auf und verweigert deutlich Revival-Gefolgschaft. Alfred Hilsberg machte mit Muße ein stimmiges Mixtape. Das Bierbeben zockelt mit Backgroundgirlsvoices, versprüht Nenas West-Planwirtschaft-Esprit. „Oh Skigebiet am Rande der Stadt, wie hab ich deine Küsten satt" klingt nach Axel Toennies (www.at-kassel.de), den – wie hier John Maynard – heute nicht viele Leute kennen, aber morgen kennenlernen sollten. Laßt die Klinge los, den Sampler drei mal durchlaufen. Den Rest schenk ich mir – wie das Fehlfarben-Thema, das ist schon durch, durch Hilsberg, durch Berlin. Wer hier die Achtziger hört, hört richtig. Wer die Neunziger, die Siebziger... nicht hört, wird morgen von Mia gefoltert.

Jörg Gruneberg

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