Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Fremde Kulturlandschaften

Stephan Drubes Expeditionen ins ländliche Rumänien

Noch in den sechziger Jahren bedauerte der angesehene Wissenschaftler Heinrich Lausberg in der Einleitung zu seiner Romanischen Sprachwissenschaft, daß den „meisten Romanisten" die „primitive Volkskultur" – von ihm als „Mutterboden der Romania" gegen „profane Hochkultur" und „christliche Kultur" abgesetzt – „völlig fremd" sei. Er empfahl deshalb, daß „jeder Romanist einen Teil seiner Zeit regelmäßig bei Hirten in den Abruzzen, in Sardinien, in den Pyrenäen, in Rumänien verbringen" sollte. Abgesehen vom Kulturverständnis, das hier zum Ausdruck gebracht wird, mutet der gesamte Passus aus heutiger Sicht etwas merkwürdig an. Unter den Bedingungen der Massenuniversität einerseits und den gesellschaftlichen Transformationsprozessen, vor allem des ländlichen Raums, andererseits erscheinen diese Ratschläge nur noch in ihrem historischen Kontext nachvollziehbar.

Gleichwohl gibt es in Europa noch Gebiete, in denen sich traditionelle Lebens- und Arbeitsweisen erhalten haben, aus metropolitaner Sicht wohlwollend und nicht ohne Nostalgie als „vormodern" oder „archaisch", ansonsten auch als „rückständig" bezeichnet, die den dort lebenden Menschen jedoch ganz selbstverständlich sind. Unter den Bedingungen des real-existierenden Sozialismus ist es zum Beispiel in Rumänien ­ und hier ließen sich die von Lausberg angeregten Erfahrungen vielleicht noch machen ­ gelungen, ländliche Lebenswelten zu konservieren, in denen die anderswo durch Industrialisierungsprozesse stattgefundenen Zerstörungen ausblieben, deren Lebensgrundlagen weiterhin auf über lange Zeiträume überlieferten Arbeitsmethoden in Landwirtschaft und Handwerk basieren.

Einblicke in diese gewähren Fotografien und Texte von Stephan Drube, die unter dem Titel Strainul apropiat – Der nahe Fremde. Rumänien auf dem Lande 1979-1996 zu einer sehenswerten Ausstellung zusammengestellt wurden und derzeit in der Romanistik-Galerie im Institut für Romanistik der Humboldt-Universität zu sehen sind. Drube bereiste in diesem Zeitraum mehrere Male Rumänien und fotografierte zu dokumentarischen Zwecken in verschiedenen ländlichen Gebieten. Die ausgestellten Fotografien – überwiegend in schwarz-weiß, manche in Farbe – sind feinfühlige und zugleich ästhetisch gelungene Studien und zeigen Ausschnitte aus unterschiedlichen Bereichen des täglichen Lebens. Im Mittelpunkt stehen die dort lebenden Menschen, die in ihrer Lebens- und Arbeitsumgebung fotografiert wurden, aber auch Landschaftsaufnahmen, die eine (zurückhaltende) Gestaltung der Natur durch den Menschen sichtbar werden lassen. Beigegeben sind kleine rumänische Textpassagen (eine deutsche Übersetzung ist vorhanden), in denen die Fotografien kommentiert werden, indem zum Beispiel ihr Zustandekommen oder die gezeigten Handwerkstechniken erläutert werden. Als Schüler des Ästhetikers Bazon Brock versteht sich Drube dabei als Vertreter einer gesellschaftlich engagierten Kunstrichtung.

Durch die nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus einsetzende Veränderungsdynamik, nicht zuletzt auch durch Rumäniens Bestreben, Mitglied der EU zu werden, sind diese „Kulturlandschaften" mehr als je zuvor in ihrer Existenz bedroht. Drube befürchtet zu Recht, daß damit ein wichtiger Teil der europäischen Kulturgeschichte verloren gehen könnte, und sieht seine Arbeit mit der Dokumentation des vielleicht in naher Zukunft nicht mehr Vorhandenen als Aufforderung, etwas für den Erhalt zu tun: „Die Bewahrung eines kulturellen Selbstbewußtseins in Zeiten der Globalisierung ist unter Vermeidung der bereits in anderen Ländern gemachten Fehler möglich. Eine Alternative wäre beispielsweise die Schaffung von ´Museums-Regionen', wo einerseits Bauern und Handwerker finanziell motiviert ihre Berufe ausüben und andererseits Besucher unmittelbar Existenzformen, Produktionsformen und die Entstehung von Produkten nach uralten Traditionen erleben könnten."

Doch auch dieser gut gemeinte Vorschlag birgt einige Risiken. Denn die Entwicklung eines wie auch immer gearteten Tourismus bringt unweigerlich Veränderungen mit sich. Zudem erforderte ein solches Projekt von seiten der Politiker Sachverstand und Weitblick, von seiten der „Betroffenen" zumindest ihr Einverständnis zu dieser Lebensform. Zudem besteht die Gefahr, statt Authenzität letztlich nicht doch nur Folklore zu vermitteln. Jenseits dieser Einwände stellen solche Überlegungen jedoch einen Versuch dar, den zunehmenden Uniformitätstendenzen des Kapitalismus etwas entgegenzusetzen. Mit seiner Ausstellung liefert Drube in jedem Fall genügend Anknüpfungspunkte zur Reflexion und zur Diskussion.

Carola Köhler

> „Strainul apropiat – Der nahe Fremde. Rumänien auf dem Lande 1979-1996" im Institut für Romanistik der Humboldt-Universität, Boeckh-Haus, 4. Etage,

Dorotheenstr. 65, Mitte, noch bis Ende April, Mo bis Fr 8 bis 20 Uhr, Eintritt frei

www2.hu-berlin.de/romanistik

© scheinschlag 2003
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 2 - 2003