Ausgabe 2 - 2003 berliner stadtzeitung
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Mit Habermas im Treppenhaus

Projekt Moderne: Am Westberliner Boulevard ­ eine Besichtigung

Friedrich Luft dekretierte einst, die Kunstkritik habe nichts zu suchen in diesem Haus. Das Theater, das 1888 als Festsaal der Kronenbrauerei, mithin als Einrichtung, die „dem Bierkonsum dienen" sollte, eröffnet wurde, ist in den letzten Jahren arg gebeutelt worden. Die Senatsstudie, die Heribert Sasses Schloßpark-Theater wohl den Garaus machen wird, empfahl, auch dem Hansa-Theater die Subventionen zu streichen. Die Gutachter attestierten dem Moabiter Theater „verstaubten Stil", denunzierten es gar als „müdes Boulevardtheater" und wollten die Spielstätte der Neuköllner Oper andienen.

Das ist ungerecht. Die Schaubühne ist auch nicht gut und kostet wesentlich mehr Geld, im Berliner Ensemble wird viel weniger gelacht, und Frank Castorf hat sich auch überlebt. Andererseits: Würde man Tratsch im Treppenhaus, die Komödie, die jüngst in Alt-Moabit Premiere hatte, im Prater spielen, das Stück würde wahrscheinlich schnell Trash-Kultstatus erlangen; würde man im Gegenzug René Pollesch im Hansa-Theater arbeiten lassen, ein Skandal wäre ihm dort sicher, und er könnte sich leichter eine politische Relevanz seines Tuns vormachen. Aber noch sitzen die Publikumsschichten säuberlich getrennt und nicht nur räumlich und dem Lebensalter nach sehr weit voneinander entfernt in ihren Theatern. Wir wollen Lufts Dekret zuwiderhandeln und uns genauer ansehen, was am scheintoten (West)Berliner Boulevard noch passiert.

André Freyni, der langjährige Haustechniker, ist nun zum Retter und Leiter des Hansa-Theaters avanciert, entschlossen, das Haus auch ohne Subventionen durchzubringen. Auf die Ära Paul Esser, der das in den zwanziger Jahren zum Filmpalast mutierte Haus 1963 wieder zum Theater machte, folgte 1981 Horst Niendorf, der das Hansa-Theater auch nicht weniger als 14 Jahre prägte. Als dann 1995 Klaus Rumpf die Leitung übernahm, war die Krise schon nicht mehr übersehbar. Das Volkstheater, so die auf der Homepage verbreitete hauseigene Geschichtsschreibung, sei im postmodernen Berlin zu einem Fremdkörper geworden: „Der Staub vergangener Epochen lastete auf dem traditionsreichen Haus." Und er lastet noch immer. In rascher Folge wechselten sich Claudio und Pietro Maniscalco und Fred Yorgk an der Spitze des Theaters ab, ehe dann mit der Senatsstudie der Tiefpunkt erreicht war und auch Yorgk das Handtuch warf. Seit August 2002 gibt es eine Neue Hansa-Theater GmbH unter André Freyni.

Bei der öffentlichen Generalprobe am Nachmittag sind es hauptsächlich Frauen zwischen 80 und 90, die sich in der dunklen, plüschigen Höhle einfinden. Gegeben wird Tratsch im Treppenhaus von Jens Exler, 1960 im plattdeutschen Original mit Heidi Kabel in Hamburg uraufgeführt. Exler war davon überzeugt, daß das Stück auch in anderen Dialekten funktionieren würde; es darf im Treppenhaus also auch berlinert werden. 40 Jahre später kündigt das Hansa-Theater „eine nostalgische Reise in die Welt und die Moralbegriffe der 50er Jahre" an ­ eine allzu harmlose Umschreibung dessen, worum es in dieser Exler-Lektüre eigentlich geht: um eine Verteidigung moderner Standards in Zeiten der postmodernen Spaßgesellschaft. Über Tonband werden nicht nur Schlager aus den Fünfzigern eingespielt, zitiert wird auch die Abstimmung über das Grundgesetz 1953 ­ Ringen um Wahrheit und Verbindlichkeit.

Damit positioniert Regisseur André Freyni sich eindeutig als verfassungspatriotischer Habermasianer, hätte er doch sonst das Endspiel inszenieren müssen. Am Grundgesetz messen lassen müssen sich nun die privaten, mehr oder weniger common-sense-fähigen Moralkonzepte der Bewohner dieses Berliner Mietshauses. Alle vier Akte konzentrieren sich auf das titelgebende Treppenhaus, womit die Schnittstelle zwischen dem, was man üblicherweise als öffentlich, und dem, was man als privat bezeichnet, in den Mittelpunkt gestellt wird. Das Treppenhaus als solches stellt nun quasi eine Grauzone zwischen den Sphären dar. Bereits wenn man sich eine Etage oberhalb der eigenen Wohnung aufhält, setzt man sich dem Verdacht von Meta Boldt, dem notorischen Tratschweib, aus, die selbst freilich, omnipräsent, nach Möglichkeit alle Treppenhausgespräche in allen Etagen verfolgt.

Collage

Fotos: Knut Hildebrandt. Collage: Jurij Adrian, Knut Hildebrandt

Das Eindringen in die Privatsphäre der anderen Hausbewohner, die ja nicht immer klar definiert an der Wohnungstür endet, bedarf einer permanenten Rechtfertigung, und hier bringt Meta Boldt ständig das Allgemeinwohl und die Hausordnung ins Spiel. Wo Gefahr im Verzug sei, müsse ja irgendjemand einschreiten; wenn der Schlachtermeister und Vermieter Tramsen (Detlef Bierstedt in dieser Rolle berlinert am wackersten) seine Wurst angeblich mit Nitrit vergiftet oder Hanne Knoop, die gute Seele im Stück, das Treppenhaus nicht putzt usw. Die Schauspielerin Luise Lenow sieht in der Figur Meta Boldt eine Frau, die sich mehr und mehr in einer „Scheinwelt von Dichtung und Wahrheit" verstrickt. Am Ende kann sie selbst nicht mehr unterscheiden, was sie wirklich gehört und was sie bloß erfunden hat, um die Hausbewohner gegeneinander aufzubringen.

Obwohl alle wissen könnten, woran sie bei Meta Boldt sind, sind sie doch immer erstaunlich schnell geneigt, ihr deren Geschichten abzunehmen; sie versteht es, jedem Einzelnen zu suggerieren, sie vertraue gerade ihm exklusiv Informationen an. Seinen Anfang nimmt alles mit einer unerlaubten Untermieterin bei Frau Knoop, der unglücklichen, vernachlässigten Tochter des Autohausbesitzers, bei dem Hanna Knoop putzt. Ewald Brummer, der mißmutige Steuerinspektor a. D., findet das skandalös, wird aber alsbald von seinem sächselnden Neffen belagert, der ebenfalls von zu Hause geflohen ist und nun auch ­ rechtswidrig ­ untergebracht sein will. Die Dinge nehmen ­ schon sehr bald nicht mehr kontrolliert von Meta Boldt ­ ihren Lauf, und der jungen Untermieterin gelingt es problemlos, die älteren Herren, den Schlachter eingeschlossen, zu becircen. Der Showdown auf dem Kaninchenzüchterball, wo sich Heike Seefeldt gleich mit drei Herren verabredet, bleibt ausgespart. Wir sehen die Protagonisten erst danach im Treppenhaus torkeln. Am Ende finden nicht nur Heike und Brummers Neffe zueinander, auch der Rentner Brummer läßt sich von Hanna Knoop betören. Über Meta Boldt aber bricht das Lügengespinst zusammen, die Ordnung ist wieder hergestellt. Man ist freilich verkatert und milde gestimmt genug, um ihr mit der Polizei nur zu drohen.

Das Stück behauptet so am Schluß die Lösbarkeit und rationale Durchdringbarkeit der Gemengelage im Mikrokosmos dieser Hausgemeinschaft. Richtig und falsch, eigentliche und uneigentliche Rede, sind am Ende wieder unterscheidbar; für den Zuschauer, der noch mehr belauschen durfte als Frau Boldt, nämlich alles, was sich vor den Wohnungstüren abspielte, waren sie es die ganze Zeit ­ eine moderne Behauptung gegen das postmoderne Theater, in dem alles zu jedem Zeitpunkt qua einer Ironie-Generalunterstellung übercodiert ist. Eine ironische Volte erlaubt Freyni sich nur am Rande: Der Neffe und jugendliche Liebhaber ist für diese Rolle zu dicklich und zu alt, wohingegen Helmuth Meier-Lautenschläger für die Rolle seines 65jährigen Onkels eindeutig zu jung ist.

Ich möchte jedenfalls nicht wissen, an welchen Stellen gelacht würde, würde man Tratsch im Treppenhaus im Prater spielen. Auf die Alten im Hansa-Theater ist einstweilen noch Verlaß.

Florian Neuner

> „Tratsch im Treppenhaus" wird im März von Mi bis Sa um 20 Uhr und am So um 16 Uhr gespielt, Hansa-Theater, Alt-Moabit 48, Tiergarten, Ticket-Hotline: 399099909,

www.hansa-theater-berlin.de

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