Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Dreizehn Gründe

warum unser Film Schuldnerberichte – Privatverschuldung in Berlin (2002, 88 min) bisher von allen Festivals (Mannheim, Hof, Leipzig, Duisburg, Basel, Amsterdam, Wien, Kassel, Stuttgart, Saarbrücken, Berlin) abgelehnt wurde:

1. weil Gleichschaltung auch ganz ohne äußere Instanzen und Vorschriften funktioniert.

2. weil die von den Entscheidungsträgern in Anspruch genommene „Professionalität" im Anschauen und Beurteilen von Bildern bzw. Filmen zum Großteil nichts ist als ihre mehr oder weniger gut bezahlte persönliche, politische und ästhetische Desillusionierung.

3. weil mir eine Freundin sagt: „Ich wüßte, wie ich's sehen könnte, aber ich will es nicht so sehen."

4. weil MedienarbeiterInnen glauben, die Arbeit in und um den Film herum erwachse aus ihrer persönlichen Berufung zu etwas Höherem. Die einmal erreichte Position wird dann dadurch verteidigt, daß man möglichst oft und ungefragt öffentlich kundtut, was diejenigen, die die niederen, schlecht bezahlten Arbeiten ausführen, in ihrer Freizeit von einem Film noch verstehen können.

5. weil die Eintrittspreise der öffentlichen Schwimmbäder in dieser Stadt im letzten Jahr auf das Doppelte erhöht wurden.

6. weil man mich im Tarnanzug und mit Kampfstiefeln fragt: „Warum bei jedem neuen Film wieder diese Kostümierung?" Und ein anderer mit dem vertraulichen Ratschlag: „Versucht's doch mal über die Schwulenschiene" helfen will.

7. weil die Medienprofessionellen gerne erzählen, sie wünschen sich von einem Film in den ersten sieben Minuten gleich eine „Ohrfeige", um aufzuwachen, hineingezogen zu werden und dabeizubleiben. Passiert das wirklich – höflicherweise nicht gleich am Anfang, dafür aber umso wirksamer über die Gesamtlänge des Films – verstehen sie plötzlich gar keinen Spaß mehr und sind tödlich beleidigt.

8. weil ein (west)deutscher – so to say – linksradikaler Filmemacher bei einem Dokumentarfilmworkshop sagt: „Wir sind hier nicht in Bitterfeld", nachdem ich den zu diskutierenden Film Megacities als „verdrecktes Machwerk" bezeichnet habe, und der Leiter eines Dokumentarfilmfestivals nachschiebt: „Wir sind hier nicht im Kindergarten."

9. weil die schlechten Momente mehr werden, in denen man glaubt, um weitermachen zu dürfen, muß man sich ganz dem Filmemachen verschreiben

10. weil eines der engagiertesten Gymnasien Berlins geschlossen werden soll, damit in den Zeitungen weiter über Werteverfall lamentiert werden kann.

11. weil die meisten Filme aus dramaturgischen Gründen die Verhältnisse schlechter zeigen als notwendig ­ was immer sofort einsehbar ist, wenn man aus dem Kino tritt und Wirklichkeit und Bilder noch unterscheiden kann.

12. weil Schuldnerberichte bereits in den ersten Einstellungen klar macht, daß es nicht um Mangel, sondern um Ungleichverteilung geht.

13. weil es stimmt, was in Volker Koepps Film Uckermark gesagt wird: „Wir befinden uns in der absoluten Restauration."

Stefan Hayn, 24.1.03

> Der Film von Anja-Christin Remmert und Stefan Hayn wird voraussichtlich Ende April im Kino Arsenal gezeigt.

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