Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen:
Heimspiel

Wladimir Kaminer auf allen Kanälen – und jetzt auch noch eine von ihm kompilierte CD: Russendisko (Trikont) heißt das Ganze natürlich. Zusammen mit dem DJ Yuriy Gurzhy wandert die Veranstaltung aus dem Kaffee Burger nun in jedes Wohnzimmer. Im heimischen CD-Player angekommen, verbreitet die Mischung aus sibirischem Ska, Petersburger Punk, Berliner Balalaika-Polka und Kunterbunt-Klezmer sofort gute Laune, die alleine kaum aufzufangen ist: Schwofen! Pogo! Wodka kippen! Raus mit den Klischees! Oder raus zur nächsten Russendisko.

Ähnlich emotionsgeladen kommt das Orginal Kocani Orkestar daher. Seit dem Erfolg von Emir Kusturicas Filmen wie Time of the Gypsies oder Underground, deren musikalische Ausgestaltung das Familien-Orchester übernahm, wurde die Kapelle aus Mazedonien bekannt. Nach diversen Touren durch ganz Europa hat das Orkestar mit Gypsy Folies (Pläne) ein neues Album eingespielt. Vielschichtiger als die Musik zu den Filmarbeiten bewegen sich die Kompositionen zwischen überschäumender Lebenslust und tiefster Melancholie. In sich überschlagenden Staccati oder gedehnter Melodik tobt tatsächlich so etwas wie der Wahnsinn – die ganz normalen Verrücktheiten des Lebens. Neben der tanzbaren Qualität ist es aber gerade auch das handwerkliche Können des Orkestars, das absolut glücklich und staunend macht.

Eigentlich sollte Calexico nur ein Seitenprojekt zweier Mitglieder von Giant Sand sein. Doch schnell wurde klar, daß der Wüstensound aus Arizona mehr als nur eine Nebenbeschäftigung ist. Inzwischen liegt das dritte Album Feast of Wire (CitySlang) vor. Die typische Mischung aus Western-Gitarre, Cajun-Akkordeon und TexMex-Bläsern ist, wie auch schon bei den Vorgänger-Alben, nicht nur Kulisse und Klischee. Ohne sich anzubiedern, erzählen die Songs von der Problematik um Drogen, Prostitution und Menschenhandel aus einer der bestgesichertsten Grenzregionen der Welt. Die vereinbarte Freihandelszone zwischen den USA und Mexiko läßt zwar Waren und Kapital frei nach Lust und Gewinnstreben fließen, nur die Menschen – in diesem Fall die Mexikaner – haben dabei schön auf ihrer Seite zu bleiben. Aber wie der Titel Feast of Wire schon verrät, feiern Calexico auch das Bastardisierende, das sich in so einer Region zwangsläufig ergibt, und so sind die Dub- oder Fiesta-Einlagen alles andere als trübsinnig. Auch die Covergestaltung von Victor Gastelum ist eine genaue Widerspiegelung dieser vermischten Kultur – Graffiti-Kunst zwischen Tradition und Coolness des Unbestimmten.

Daß ein bißchen Arizona auch noch in die kleinste Berliner Küche paßt, führt Paul Motikat vor. Mit seinem Achtspur-Rekorder hat er in feinster Lo-Fi-Manier jede Menge Folk-Songs eingespielt. Wohl nicht zufällig heißt der Opener auf Out of Tune (UlfTone-Music) Black Cadillac. Ein Titel, der sich so auch locker bei Calexico finden ließe. Ein bißchen Berliner-Hinterhof-Melancholie, gepaart mit Sehnsucht nach der weiten Welt. Musik für einen Sonntagmorgen.

Marcus Peter

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