Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
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Kakerlakenrennsport boomt weiter

Die für die Kakerlakenrennen zugelassenen Tiere werden vom Obersten Sowjet des Rennkakerlakenkomitees (IOC) peinlich definiert. In einem fünfseitigen Kodex ist u.a. festgelegt, daß ein Kandidat, der vor dem Start etwa einen Gegner verzehrt, mit einem befristeten Kopulationsverbot belegt wird. „Die Halter der Rennkakerlaken sind so zu kleiden, daß die gegnerischen Rennkakerlaken bei ihnen keine Nahrungsmittel vermuten." (Abschnitt I.3.). Jeweils sieben Tiere treten zu einem Rennen an. Im Rennstall, den man sich als Terrarium mit separaten Boxen vorstellen muß, leben – nach Generationen getrennt – etwa 30 Exemplare. Die einzige bekannte Zucht dieser Art befindet sich heute in der Chausseestraße in Mitte; der russische Maler Nikolai Makarov, der seit 27 Jahren in Berlin lebt, ist ihr Halter. Er ist nicht nur der Trainer seiner kleinen Freunde, sondern auch seelischer Kurator, eine Köchin sorgt für die ausgewogene Ernährung (Fleisch, Gemüse, freitags Fisch). In unregelmäßigen Abständen laufen die Tiere im Vereinslokal seines Stillen Museums in der Linienstraße 154 und anderen Orten. Die Wettgewinne sowie die Einnahmen aus der Bandenreklame der Rennbahn kommen der Sergej-Mawrizki-Stiftung zugute, die sich auf mannigfaltige Weise um den deutsch-russischen Kulturaustausch bemüht.

Anfangs wurden Geldwetten angenommen, was man, bevor die Bürokratie zuschlagen konnte, einstellte, um fortan Sachpreise ­ Kaviar oder Wodka ­ auszuschreiben. Es gehe nicht ums Zocken, sondern ums Saufen, zumal das Rennen selbst nur wenige Sekunden dauert. Und tatsächlich bewegt die sehr eigene Attraktion dieses Sports die Gäste zu starker Mitteilsamkeit. Bei dem Rennen anläßlich der Saisoneröffnung im Staatstheater Hannover gewannen über 50 der 400 Gäste ihre Wodkaflaschen, die samt und sonders vor Ort getrunken wurden, wodurch die kommunikative Energie, laut Makarov der Zweck der Veranstaltung, gewährleistet war.

In der Literatur wird dieses sportliche Genre u.a. bei Tolstoi oder Bulgakov (Die Flucht) erwähnt. Ursprünglich gereichten gelegentliche Kakerlakenrennen den Russen der Zarenzeit zur Zerstreuung. An Bedeutung gewannen sie nach der Oktoberrevolution, als russische Emigranten sie zur Erhaltung ihrer kulturellen Identität betrieben. Dies geschah zuerst in den zwanziger Jahren in Istanbul.

Makarov sieht eine Parallele zwischen Kakerlaken und Flüchtlingen: Tauchen sie in Scharen auf, sind sie eine Plage. Treten jedoch nur sieben vor die Öffentlichkeit, so werden sie gefeiert.

Im vergangenen Jahr zeichnete sich eine ganz irrationale Komponente im Zusammenhang mit den Rennen ab. Udo Lindenberg gab den Startschuß, als Sommer 2002 im Tränenpalast zwei Tiere gegeneinander liefen, die je eine Mannschaft der Fußball-WM vertraten. Im ViertelÞnale besiegte Olga, die für Deutschland lief, Ural, der die USA vertrat. Dieses Ergebnis wurde daraufhin in Korea bestätigt. Auch beim Rennen zur Bundestagswahl am 22. September, ebenfalls im Tränenpalast, obsiegte Olga (SPD) über Ivan (CDU/CSU), und dies ganz knapp.

Makarov freut sich über den Aufwind seines Sports. Geplant sind Veranstaltungen in Hongkong und Las Vegas. Um Komplikationen an den Flughäfen vorzubeugen, werden Tierpässe von der Transnationalen Republik ausgestellt, deren Staatsbürger im übrigen jede interessierte Person werden kann. Der Kontakt zur Botschaft kann über www. transnationalrepublic.org hergestellt werden.

Der Termin für das kommende Rennen steht zur Zeit noch nicht fest. Ein allgemeiner Beitrag hierzu ist vorraussichtlich Ende Februar in der Sendereihe Galilei auf Pro7 zu sehen; auch arte hat kürzlich eine einstündige Dokumentation abgedreht. Auskünfte zu den Veranstaltungen können unter hm@sergej-mawrizki-stiftung.de in Erfahrung gebracht werden.

Roland Kirberg

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