Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
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Schatten der Geschichte

Raphael Griseys Beschäftigung mit verschwundenen Denkmälern

Manches wirft einen Schatten, selbst wenn es schon längst nicht mehr existiert. Und diese Schatten können einen dann um so mehr beschäftigen. So ist es auch bei dem 1979 nahe Paris geborenen und nun in Berlin lebenden Künstler Raphael Grisey. Ihn treiben die Schatten der abgerissenen Denkmäler zu einer intensiven Beschäftigung mit der deutschen und Berliner Geschichte.

Berlin ist die Stadt, in der im letzten Jahrhundert deutsche und europäische Geschichte gemacht wurde, die manchmal aber auch nur ein interessanter Spielstein im Machtpoker der Politiker war. Die Spuren sind vielerorts zu sehen und manchmal nur zu erahnen. Seit jeher gilt das Setzen von Zeichen durch Bauten und Denkmäler als ein Mittel der Machtpolitik. In Berlin ist die Geschichte dieser Denkmäler um so interessanter, weil in so kurzer Folge die verschiedensten Machthaber ihre Monumente aufstellen und die ihrer Vorgänger niederreißen ließen. Besonders prägnant ist dies bei Denkmälern des Wilhelminismus, z.B. Siegesallee, Nationaldenkmal, Invalidensäule, und nach 1990 bei Denkmälern der sozialistischen Machthaber in Ostberlin gewesen.
Die neue und alte Machtelite des Westteils der Stadt konnte die sozialistischen Denkmäler im öffentlichen Straßenraum, etwa den Lenin am heutigen Platz der Vereinten Nationen, nicht länger dulden. Man fühlte sich durch den 1970 von Nikolai Wassiljewitsch Tomski in roten ukrainischen Granit gehauenen Revolutionär international blamiert und ließ ihn trotz Protesten und Vorschlägen für einen phantasievolleren Umgang mit diesem Stück Zeitgeschichte abreißen. Als Ersatz folgten fünf Steine von fünf Kontinenten, aus denen nun im Sommer ein bißchen Wasser sprudelt und die vorbeifahrenden Autofahrer an eine provinzielle Kurstadt erinnern. Die Hochhäuser, die als Umrahmung des monumentalen Lenins gedacht waren, haben ihren städtebaulichen Sinn verloren.

Raphael Grisey machte sich vor zwei Jahren auf die Suche nach den Resten des Denkmals, seitdem er vor einigen Jahren über dessen Schicksal in dem Buch Ombres berlinoises (Berliner Schatten) von Emmanuel Terray gelesen hatte. Nach längerer vergeblicher Suche ist er inzwischen fündig geworden und hat zusammen mit Freunden Teile der einst 20 Meter hohen und aus 125 Stükken bestehenden Figur nahe dem Müggelsee ausgegraben.

„Aber ich werde ihn dort lassen, denn unter dem Sand und den jungen Kiefern ist er sicher”, sagt Grisey und weist auf Videodokumentationen dieser „Grabungsperformances” hin, die als Kunstwerk ausreichen müssen. „Mir geht es mehr um eine Bewußtmachung im Umgang mit Geschichte”, erläutert er den Sinn seines Unternehmens.

Letztendlich war die Beschäftigung mit dem „entsorgten” und versteckten Lenin auch Auslöser, sich mit anderen Berliner Denkmälern zu beschäftigen, u.a. mit dem Grab von Ulrike Meinhof, den verschiedenen Rosa-Luxemburg-Gedenkstätten oder auch nationalen Symbolen wie dem Reichstag und dem Brandenburger Tor, von dem er einen Nachbau in Butter anfertigte, der nach einiger Zeit ranzig wurde. Ihn interessiert, wie man eine persönliche Haltung des Gedenkens zu eher unpersönlichen, teils abstrakten Orten und Geschehnissen jenseits der eingespielten Riten gewinnen kann.

Einige Denkmäler baute er stark verändert als Möbel nach, mit der Absicht, das Gedenken und Erinnern in den Alltag zu integrieren. So steht nun sein Fernseher auf einer Badewanne, die als Sockel für den Nachbau der Wandlitzer Siedlung diente.

Nachdem er seine Objekte zur Berliner Denkmalsgeschichte mehrmals zusammen mit seinem Pariser Malerkollegen Fred Bouchet in freien Galerieprojekten und im Kunstraum Kreuzberg im Bethanien ausgestellt hat, will er sich jetzt aktuelleren Themen widmen, z.B. einen Dokumentar&Mac222;lm über die Arbeitsbedingungen in der Zentrale von Universal Records drehen, denn „mit der Zeit machen die Schatten der deutschen Geschichte einen ganz schwermütig, auch wenn es nur Schatten sind”.

Spunk Seipel

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