Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1903

6. Februar bis 5. März

Eine gemeinsame Sitzung der Internationalen Musikgesellschaft und der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin, in welcher die Lösung des Problems der Photographie der Musik, der Stimme und Sprache behandelt und der vom Ingenieur Cervenka aus Prag erfundene neue Photophonograph vorgeführt wird, findet am 6. Februar in der Aula der Universität statt.

Über die musikwissenschaftliche Bedeutung der Erfindung spricht zunächst Prof. Dr. Fleischer. Unser papiernes Zeitalter, so führt er aus, lege viel mehr Gewicht auf das Sehen als auf das Hören. Wende sich der Gesichtssinn mehr an den Verstand, so spreche der Tonsinn zu unserem Herzen. Etwa ein Drittel unserer Sinneseindrücke sei dem Gehörsleben entnommen, die schnell verhallten. Aus diesem Grund hat man schon seit Jahrtausenden begonnen, das gesprochene Wort zu fixieren. Aber diese Schriften sind nicht wirkliche Spiegelbilder, sondern nur konventionelle, unendlich vieldeutige und zu allem fähige Symbole.

Die Subjektivität der Musik mache man auch ihrer Wissenschaft zum Vorwurf; und es scheint, als ob die Musik keinerlei Kunstwerke erzeugen könne wie etwa die unabänderlichen Werke der bildenden Künste. Die phonographischen Erfindungen nach Edison haben manche Mängel des ursprünglichen Apparates beseitigt. Schon vor sechs Jahren wurde der Vortragende angeregt, auf die Begründung eines phonographischen Archivs hinzuarbeiten, wie es in Wien verwirklicht ist. Aber man konnte keinem Musiker zumuten, seine Leistungen in einer unvollkommenen Wiedergabe fixieren zu lassen. Jetzt stehe man vor der Lösung des Problems, die Musik rein und klar der Nachwelt zu überliefern, sie ihr zur Nacheiferung und zur Korrektur vorzulegen. In diesem Tonspiegel könne der Sänger seine Leistungen kritisch betrachten; es sei dadurch auch eine Nachprüfung der Kritik ermöglicht. Jedermann könne sich nun die besten musikalischen Genüsse der Welt billig und zu beliebiger Zeit verschaffen.

Die Erfindung des Photophonographen setzt sich aus zwei völlig getrennten Teilen zusammen. Der erste, die Photographie der Musik, stehe ganz vollendet vor uns; hier sei alles geleistet, was man von einer Photographie irgend erwarten könne. Der andere Teil, die Wiedergabe des Festgehaltenen, stehe noch im Beginn der Entwicklung; wieweit man hier jetzt gekommen sei, würden die Vorführungen lehren.

Auf Prof. Fleischers Einleitung folgt ein Vortrag von Dr. Theodor S. Flatau, Dozent für Stimmphysiologie und Gesangshygiene an der Königlichen Musikhochschule. Er beleuchtet die stimm- und sprachwissenschaftliche Bedeutung der Erfindung: Die Aufgaben eines wissenschaftlich brauchbaren Aufbewahrungapparates gegenüber den Stimm- und Sprachleistungen sind weniger bekannt und geklärt als in der Musik. Das entspricht den gegenwärtig noch herrschenden Zuständen des Unterrichts in der Stimm- und Sprachpflege überhaupt.

Als dritter Redner kommt der Erfinder selbst zu Wort. Mit Projektionsbildern erläutert Herr Cervenka die Entwicklung der Phonographie, legt in technischer Ausführung dar, wie er bei der Erkenntnis der bisherigen Mängel allmählich zur Konstruktion seines Apparates gekommen sei, und geht schließlich auf die photophonische Aufnahme ein.

Es folgen die experimentellen Vorführungen, zu denen sich der anwesende Kronprinz mit dem Minister und den beiden Vortragenden zum Senatssaal begibt. Interessant sind die Kontrollversuche zwischen den Leistungen des Grammophons und des neuen Photophonographen. Der Unterschied wirkt ganz überraschend. Der bisherige metallische Beiklang der Stimme ist verschwunden, und die Wiedergabe klingt natürlich, ganz der menschlichen Stimme entsprechend. Von besonderer Wirkung ist die von Hofopernsängerin Selma Kurz gesungene Arie aus „Mignon", hier kommen alle Details, die Triller, die Gegensätze von forte und piano so außerordentlich zur Geltung, daß der Vortrag bei der kritischen Versammlung rauschenden Beifall erntet. Auch bei einer von Poppe auf dem Cello gespielten Gavotte zeigen sich die Fortschritte in der Wiedergabe, der noch ein Duett aus der „Zauberflöte" und das Preislied aus den „Meistersingern" von Hofopernsänger Slezak folgt. Ein xylophonischer Vortrag beschließt die Vorführung.?

Falko Hennig

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