Ausgabe 01 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Das A-Wort

Arbeit, Armut, Akademiker

In meiner thüringischen Heimat spricht man das Wort „arbeiten" auf ganz besondere Art aus: den Rachen eng angespannt entsteht tief ein Klang wie von einer Maultrommel: „Oaor". Das hochdeutsche „b" nur eine Brücke aus Schleim, die zum „uai" führt (kein echter Erfurter würde jemals die Lippen zum b schliessen!). Dem Ende zu („ai") dann doch die Mundwinkel ein wenig einknicken, aber nicht zuviel, denn merke, der Klang entsteht im Rachen! Faukale Enge heißt der Fachbegriff; sie wird – so habe ich gehört – von Ekelgefühl hervorgerufen. Vor der Wende hat mein Freund Lorenz so immer die Eigenheiten des einheimischen Dialektes beschrieben: „oaoruainn!", und sein Gesichtsausdruck bewies empirisch die Richtigkeit der soziolinguistischen Theorie. Meinem Eindruck nach stand die faukale Enge bei ihm mit dem Inhalt des artikulierten Begriffs und den damit assoziierten Unannehmlichkeiten in unmittelbarem Zusammenhang.

Die Zeiten haben sich geändert. In Erfurt wie in Berlin wird das böse A-Wort (oao) nur noch verschämt artikuliert: Haste noch ...?, und fast immer von einem niedergeschlagenen Kopfschütteln erwidert. Die Bewegung gleicht der des Ochsen im Joch. Gebeugt sitzen mir in Berlin die Menschen im Sozialamt gegenüber. Ihr Nacken ist lang und ungeschützt. Als ob das Geschirr noch drückte, ein Phantomschmerz, der nur in der Erinnerung existiert.

Um es deutlicher zu machen: Ich glaube nicht, daß mein Lebensglück von der 40-Stunden-Woche abhängt. Ganz im Gegenteil. Vielleicht gibt es ja noch Menschen, die eine Tätigkeit ausüben, an der sie Freude haben und für die sie zudem noch Geld bekommen. Und zwar genügend, um davon zu leben. Mir jedenfalls ist dieses Glück nicht beschieden, der Zufall ging hochnäsig an mir vorüber. Zugegeben, ich könnte ihm (dem Zufall) unter die Arme greifen und nach Bayern oder Baden-Württemberg ziehen, wo die Jobs an den Bäumen hängen wie überreife Pflaumen (sagt man). Aber ich bleibe in Berlin, eine arbeitslose Germanistin in der Stadt der drei germanistischen Institute, wo die arbeitslosen Germanisten an den Bäumen hängen wie in Bayern die Jobs. Natürlich in übertragenem Sinne. Die Germanisten meine ich.

Den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr, immerfort von acht bis fünf in der Mühle trotten. Sich früh in der U-Bahn auf den Feierabend freuen, voller Neid die letzten Nachtschwärmer im Blick. Abends nur noch Kraft für den Zwanziguhrfuffznfilm. Liebe Leserin, lieber Leser: Gehörst Du zu diesen glücklichen Nicht-Arbeitslosen? Deren Leben sich durch die Abwesenheit von eigener, selbstbestimmter Zeit und die Anwesenheit von Geld auszeichnet? Den Erwerbs-Tätigen mit scheinbar gesicherter Rente und Auslandsurlaubsgarantie? Im Augenblick sind sogar die miesesten Jobs besser als gar kein Job. Nimm alles an, selbst miese Jobs sind rar. Schon mal im Callcenter gearbeitet? Ach, du bist auch Akademiker?

Warum eigentlich werde ich zur Arbeit verpflichtet wie ein Rekrut zum Wehrdienst? Weshalb will man mich zwingen, meinen „Lebensmittelpunkt" nach Bayern zu den glücklichen Pflaumenbäumen zu verlagern? Arm sein ist teuer. Das ist immerhin ein Argument. Arm sein ist nahezu unbezahlbar. Arm sein muß man sich leisten können. Zeit ist Geld. Wie lange kann ich es mir noch leisten, arm zu sein und Zeit zu haben?

Anke Engelmann

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