Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Weihnachten 2003 (Teil I)

Fröhlichkeit

Ein Schwibbogen dient normalerweise dazu, zwei Mauern zu verstreben und zu stabilisieren. Das albern klingende Wort bezeichnet aber auch eine Weihnachtsdekoration: ein Holz- oder Plastikhalbrund, das ohne jede statische Funktion im Fenster steht und eine Reihe Leuchtdioden trägt. Sind sie in vielen Fenstern zu finden, geben sie dem Passanten einer trüben Berliner Winterstraße eine Ahnung davon, was „fröhliche Weihnacht" bedeutet. Da entfaltet das Fest, dieser mißratene Bastard amerikanisch-germanisch-christlicher Traditionen, seine ganze Pracht. Zusammen mit den Schwibbögen blinken stilisierte Weihnachtsbäume, Lichterketten, Adventssterne (gern mit Schweif), Pyramiden und pagodenartige erzgebirgische Karussells. Sie schicken nervöse Lichtblitze durch die Spitzengardinen, glühen und flimmern wie eine Juke Box und erleuchten, wenn man Glück hat, ganze Straßenzüge wie den Times Square persönlich.

Auch dem feinsinnigen Betrachter erschließt sich die Schönheit dieser Arrangements nicht auf Anhieb. Oft werden sie als billig, gar prollig verachtet ­ als ob das ein Argument wäre. Erst wenn sie weg sind, fehlt einem was. In meiner Straße zum Beispiel gibt es immer weniger Liebhaber echter Weihnachtsfröhlichkeit. Da sitzen nur noch dezente Akademiker hinter den Fenstern, die sie mit schweren, maisgelben Tüchern verhängen, dazu allenfalls ein schweifloser, mit einer einzigen Glühbirne matt beleuchteter Stern aus von mir aus echtem Holz. Ist ihre Studentenzeit einmal um, sind diese protestantischen Geizknochen zu keinem Exzeß mehr fähig. Die ganze Adventszeit hocken sie in ihrer kargen Biedermeier-Idylle herum und raunen besinnliches Zeug ins Kerzenlicht.

Wie ist es möglich, daß diese „Besinnlichkeit" nicht mit dem Ende des Kaiserreichs aus unserem Wortschatz verschwunden ist? Ich kenne niemanden, der dieses Wort aussprechen kann, ohne sich dumm vorzukommen oder es zu sein. Das Wort „Fröhlichkeit" hingegen klingt ein wenig trashig, aber nicht zu sehr. Es erlaubt Ironie, ohne sie zu erzwingen; es ist ein schönes Wort und auch ein nützlicher Begriff. Fröhlichkeit find ich gut. Ich kauf mir jetzt einen Schwibbogen.

Otto Witte

Foto: Amélie Losier

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  Ausgabe 11 - 2002