Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Der Osten als Experimentierfeld

Wolfgang Engler über die ostdeutsche Avantgarde

Deutschland nach der Wahl. Deutschland hat das kleinere Übel gewählt. Es wird von der Mitte aus rumgerührt, und von rechts wird dagegen polemisiert. Keine Zukunft, keine Hoffnung. Nirgends. Aber könnte nicht alles ganz anders sein? Bloß wie? Um die Resignation abzuschütteln, lesen wir jetzt alle ein Buch: Die Ostdeutschen als Avantgarde. Der Soziologe Wolfgang Engler führt darin seinen Essay Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land von 1999 fort. Er verteidigt, trägt nach, präzisiert. Wichtiger aber: Engler überführt seine vergangenheitsbezogene Analyse in ein Modell für die Zukunft. In seinem Fokus: die Zeit nach 1989. Ungewollt, sagt Engler, habe der Osten als Experimentierfeld für den Abschied von Arbeitsgesellschaft und Vollbeschäftigung gedient.

Was haben die Ostdeutschen dabei gelernt, the hard way? Daß die Gleichsetzung von Menschsein und Erwerbsarbeit an ihr Ende gelangt ist. Arbeitslosigkeit nicht als Nachwende-Makel, sondern als Konsequenz der Globalisierung. Zukünftig, sagt Engler, werden immer mehr Menschen nicht mehr das verdienen, was sie zum Leben brauchen. Entweder man stempelt sie zu Menschen zweiter Klasse, drangsaliert sie mit Kürzungen, teilt sie zu gemeinnütziger Arbeit ein ­ oder man begreift, daß ein Leben in Würde auch ohne Arbeit möglich sein muß, wenn die Arbeit nicht mehr für alle reicht.

Dann gilt es, neue Formen des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens zu finden. In den Ostdeutschen, 1989 in die Freiheit des Wettbewerbs aufgebrochen, mit einem der brutalsten Umstrukturierungsprozesse der neueren Geschichte belohnt, sieht Engler Vorreiter auf diesem Weg. Was sie seit 13 Jahren üben, wird man im Westen erst noch lernen müssen.

Wie schon der Titel sagt das gesamte Buch: Die Letzten werden die Ersten sein. Das ist eine Geschichte aus der Bibel, ein Märchen, Stoff für einen Kaurismäki-Film. Ob das alles so kommen wird? Engler selbst sagt „soziologische Erzählung" zu dem Ganzen. Das trifft. Auch aus Fiktionen kann man was über die Gegenwart und für Morgen lernen.

Kai Schubert

> Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen als Avantgarde. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 16,50 Euro

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