Ausgabe 11 - 2002 berliner stadtzeitung
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Hyperbolische Paraboloide

Ulrich Müther, Schalenbaumeister der DDR

Seit im Sommer 2000 das Berliner Ahornblatt (1) unter heftigen Protesten abgerissen wurde, ist dessen Konstrukteur Ulrich Müther wieder in aller Munde. Jetzt ist er nach 33 Jahren Bautätigkeit mit einer Werkschau auf Ausstellungstournee. Der Auftakt am 18. Oktober 2002 im Künstlerhaus Nürnberg fand großen Anklang, weitere Stationen sind Magdeburg, Hannover und Braunschweig. Ab dem 20. Januar ist die Ausstellung in der Berliner TU zu sehen.

Dem Unternehmersohn aus Binz ­ sein Vater war Architekt und betrieb das 1922 gegründete Bauunternehmen ­ wurden in der DDR Abitur und Studium auf direktem Weg verwehrt. Müther lernte Zimmermann, war ein Jahr Geselle und nahm dann an der Ingenieurschule in Neustrelitz ein Studium zum Bauingenieur auf. Danach folgten vier Jahre Berufspraxis bei der Planung von Kraftwerken in Berlin und ein Fernstudium des Bauingenieurwesens an der TU Dresden. 1958 wurde er Technischer Leiter und Vorsitzender des mittlerweile in eine Produktionsgemeinschaft (PGH) umgewandelten Familienunternehmens. Seine 1963 angefertigte Diplomarbeit, der Mehrzwecksaal eines Ferienheimes, wurde in Binz realisiert und war der erste Schalenbau in der DDR. Ab 1966 jagte dann eine Fertigstellung die nächste, seine Betonschalenkonstruktionen wurden bald gefragte Neuerer-Artikel und schafften DDR-weit leichte und zugleich kraftvolle Kontrapunkte zur allgegenwärtigen baulichen Tristesse.

Bei diesen Bauvorhaben gab es keine Behinderungen durch Bürokratie, denn man wollte schnell Vorzeigeobjekte durchsetzen. Die Messehalle Rostock wurde z. B. in 150 Tagen geplant und gebaut. Obwohl Müther kein Mitglied einer Partei war, ließ man ihm bei seinen Bauvorhaben freie Hand, da sie dem Staat Anerkennung und Devisen einbrachten.

Vorteilhaft war, daß seine Firma mit rund 100 Beschäftigten die Rohbauten völlig selbständig durchführen konnte und das Interesse an „gesellschaftlichen Sonderbauten" groß war. Wenn heute oft Hochhaustürme in neuen Stadtquartieren identifikationsstiftend wirken sollen, waren es früher Gesellschaftsbauten und „kühne Solitäre" wie die Müthers.

Ahornblatt

Nach der zunehmenden Typisierung auch der Gesellschaftsbauten Mitte der siebziger Jahre errichtete die seit 1974 „VEB Spezialbetonbau Rügen" genannte Firma Müthers Anfang der achtziger Jahre zahlreiche Sportbauten wie z.B. die Rennschlittenbahn in Oberhof (2). Seine Zeiss-Planetarien wurden ein gefragter Exportartikel, die Planetariumskuppeln wurden in Wolfsburg, Osnabrück, in Kuwait, Helsinki und Tripolis gebaut ­ letztere sogar, an das Ahornblatt erinnernd, mit fünf Schalen kombiniert (3). Sein größtes Planetarium mit 30 Metern Durchmesser an der Prenzlauer Allee entstand 1986 und soll nun möglicherweise abgerissen werden: Ein Planetarium ­ das in Westberlin ­ sei genug.

Bis 1990 hatte Müthers VEB Spezialbetonbau 50 Schalenbauwerke realisiert. Aus dem VEB wurde nach dem Ende des sozialistischen Experiments eine GmbH. Nach mehrjähriger erfolgreicher Arbeit mußte seine Firma 1999 aufgrund großer Außenstände Insolvenz anmelden. Nach der Wende wurden einige seiner Schalenkonstruktionen nicht mehr genutzt. Infolgedessen wurden die Fassaden und Inneneinrichtungen demoliert und nicht nur das herausragende Ahornblatt fiel kurzsichtigen Abrißentscheidungen zum Opfer.

Das Außergewöhnliche an den Betonschalenbauten war, daß durch den Einsatz von Naturformen unter minimalem Materialeinsatz ­ die Schalen waren meist nur 7 cm stark ­ enorme Spannweiten stützenfrei überwunden werden konnten. Eine maßgeschneiderte Bautechnik für DDR-Verhältnisse, wo Arbeitskraft billig und Material knapp waren, und ein passender baulicher Ausdruck für das „Neue Deutschland", das man im Gegensatz zum westlichen Pendant verkörpern wollte.

Dabei kehrte sich das übliche Verhältnis ­ der Architekt plant, der Statiker rechnet ­ oftmals um; der mathematische Ansatz zur Formfindung dominierte die Zusammenarbeit mit den Architekten. Die hyperbolischen Paraboloide, wie sich viele seiner in den Himmel ragenden Schalendächer auf Fachchinesisch nennen, haben den Vorteil, aus einem System verschobener gerader Linien zu bestehen, was die exakte Berechnung der statischen Kräfte ermöglichte und den Bauaufwand verringerte. Müther perfektionierte die Spritzbetontechnik, so daß lediglich der Bewehrungsstahl in die gewölbten Formen gebracht werden muß. Der Beton wird auf ein aufgebrachtes engmaschiges Drahtgitter aufgespritzt und bleibt daran hängen, ohne eine aufwendige Holzverschalung zu benötigen. Gestalterisch waren seine in Beton gegossenen Segel, Membranen, Muscheln, Pilze und Kugelschalen stets eine Sensation und fügten sich in die Reihe der internationalen Meisterwerke dieser Spezies ein.

Teepott

Einige Schalenbauten Müthers wurden rekonstruiert und sind heute wieder in Betrieb, wie etwa der „Teepott" in Warnemünde (4) oder das „Kosmos" nahe der Rostocker Stadthalle. Sie sind jedoch vielfach unterteilt und mit Einzelnutzungen vollgestopft, so daß die Großform von innen kaum noch erlebbar ist. Noch gemäß der ursprünglichen Nutzung in Betrieb sind eine Gaststätte am Tierpark Eberswalde und das Restaurant „Seerose" in Potsdam (5). Sehenswert sind auch der Musikpavillon in Saßnitz (6) sowie der Rettungsturm am Binzer Strand (7), der 1968 aus einer aus Sand modellierten Form abgegossen und zusammengesetzt wurde. Müther möchte ihn möglichst bald als Ausstellungsraum nutzen.

In die momentan grassierende antimoderne Nostalgiewelle passen die Mütherschen Bauten schlecht, doch man ist sich in der Fachwelt einig, daß die Bauten unbedingt erhalten werden müssen. So schreien die Ruinen der „Ostseeperle" in Glowe, des „Inselparadieses" in Baabe und der Mehrzweckhalle in Rostock-Lütten-Klein nach baldiger Rekonstruktion.

Müther ist nunmehr Rentner und hat sich eine Etage eines Seitentraktes des ehemaligen „KdF"-Bades in Prora als Archiv zugelegt, wo er sich stets über Besucher freut. Immer wieder finden sich dort studentische Seminargruppen sowie ehrenamtliche Helfer ein, die ihn bei den anfallenden Arbeiten unterstützen. Weil sein Spezialwissen kostbar ist, wird Müther zunehmend auch bei der Sanierung seiner Bauten zu Rate gezogen. Und wenn er Glück hat, gibt es vielleicht sogar ein kleines Comeback: Ein Wohn- und Ferienpark in Ostseenähe mit bis zu 60 Häusern in Betonschalenbauweise ist in Vorbereitung.

Er selbst sieht den Dingen gelassen entgegen und versprüht trotz des Verfalls und Abrisses einiger seiner Bauten Optimismus. Den Härtetest, den viele seiner Schalen durch jahrelangen Leerstand durchliefen, haben die meisten ohne substanziellen Schaden überstanden ­ ein Qualitätsbeweis.

Er verbringt als leidenschaftlicher Segler so viel Zeit wie möglich auf seinem Zweimastschoner auf der Ostsee. Die ausgewogenen Verhältnisse des Wassers, die Formen, die der Wind in den Segeln erzeugt und die Harmonie schöner Schiffsbaukörper waren wohl die Inspirationen, die den „Landbaumeister aus Binz", wie er sich gerne nennt, zu seiner kühnen Formensprache trieben. Seine Bauwerke hätten es in jedem Fall verdient, als bauliche Experimente und Inspiration für heutige Bauaufgaben erhalten zu bleiben. Sie sind, auch als Ruinen, zu Pilgerstätten zahlreicher an außergewöhnlicher Architektur interessierter Menschen geworden. Ein Grund mehr, ab und zu die Insel Rügen zu besuchen.

Carsten Joost

Fotos: Archiv Ulrich Müther

> Die Austellung ist vom 20. Januar bis zum 7. Februar im „Forum" des Architekturgebäudes der TU Berlin, Straße des 17. Juni 152, zu sehen und wird am 21.Januar um 19 Uhr mit einem Vortrag von Ulrich Müther eröffnet.

> Anfragen an Ulrich Müther können gestellt werden unter:
muether-ingenieure@t-online.de

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