Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Hier schreien 'se alle"

Oder sie singen und tanzen: im Eisbeineck

„Wenn'er was haben wollt, müßt'er schreien! Hier schreien 'se alle", sagt die Wirtin. Entsprechend schreien wir unsere Bestellung in den Raum: „Einmal Eisbein! Einmal Rippchen! Und zweimal Bier!" Rippchen gibt's nicht mehr: dann also zweimal Eisbein.

Das Eisbeineck liegt an der Ecke Proskauer/Dolziger Straße, gegenüber dem ehemaligen Schlachthof, wo trotz großartiger Planungen (Olympisches Dorf, Wohn-und Gewerbegebiet usw.) noch immer nicht viel passiert ist und hauptsächlich Schrotthändler ihr Domizil haben. Drumherum eine ruhige, nicht besonders schöne Gegend, die sich das Gesicht des alten Friedrichshain wenigstens teilweise erhalten hat.

Früher wurde das Eisbeineck von den schlachtenden Nachbarn frequentiert, heute von Ex-Schlachtern, die mittlerweile sonstwo ­ etwa in Hellersdorf ­ wohnen, und den Anwohnern aus dem Kiez. Seit achteinhalb Jahren betreiben Wolfgang Klös und Heidi Berschel die Kneipe. In dieser Zeit haben ihnen die Gäste eine ganz manierliche Schweinesammlung beschert: Mittlerweile nennen sie 520 Holz-, Ton-, Plastik-, Keramik-, Spar-, bekleidete und unbekleidete Schweine ihr eigen. Die stehen schön aufgereiht in einer Glasvitrine und im ganzen Raum verteilt zwischen Biergläsern, Grünpflanzen, Holzhauereien einigermaßen nebulöser Herkunft und allerlei Klimbim. An der Wand tickt eine alberne Uhr mit zwei im Takt vögelnden Schweinen. Außerdem gibt's im Raum noch ein paar Spielgeräte: einen Mensch- ärgere-dich-nicht-Automaten, einen Dart- Automaten und einen Kasten, über dessen Funktion man nur rätseln kann. Die übrige Einrichtung ist rustikal, etwas heruntergekommen: die Tapeten gilb, die Polster der Stühle abgegessen, mit Brandflecken. Anders ausgedrückt: so, daß man sich nicht allzu sehr vorsehen muß. Was für einen potentiellen Betrunkenen (und das ist man als Kneipengänger per se) ja von einiger Bedeutung ist. Alles in allem präsentiert sich das Eisbeineck also genau in der Art, wie man sich eine Kneipe wünscht.

Hinter einer wackligen Schiebetür befindet sich der Trophäensaal, ein Raum ­ voller Pokale und zugepflastert mit Urkunden ­ für Dart-Turniere, Vereinsbesäufnisse, Familienfeste. Man ergeht sich in der fröhlichen Vorstellung, hier seinen siebzigsten Geburtstag zu feiern.

Um gemütlichere Stimmung zu schaffen, schaltet die Wirtin das große Licht aus: Im rosigen Schein der Rosenpils-Leuchtreklame schlürfen wir unser Bier und schauen, nachdem wir uns das Eisbein einverleibt haben, den anderen Gästen zu. Es sind nicht eben viele, dafür lärmen sie gewaltig. Alle wirken, als seien sie wirklich froh, hier zu sein. Trotzdem hat man den ganzen Abend lang den Eindruck, als würde die Kneipe in der nächsten halben Stunde geschlossen. Das täuscht: Feierabend ist, wenn der letzte Gast geht. Und das dauert.

Später wird nicht mehr nur geschrie- en, die Gäste singen die Siebziger-Jahre-Schlager mehr oder weniger textsicher mit. Dann beginnen sie zu tanzen. Die Betrunkenen sind zwar ganz offensichtlich betrunken, aber überaus friedlich: Entweder sie schlafen oder sie reden auf ihre Nachbarn ein, vergessen gleich wieder, was sie gesagt haben und beginnen von vorn ­ wenn die anderen nicht mehr zuhören wollen, spricht man mit dem Wirt oder aber mit den Schweinen.

Wir sitzen und trinken uns in einen angenehmen, heiteren Rausch, wohlgesättigt und im Bewußtsein, daß alles zwar nicht halb, aber immerhin nicht ganz so teuer ist. Die Wirtin spielt allein am Mensch-ärgere-dich-nicht-Automaten und jubelt, wenn sie gewinnt. Irgendjemand ruft: „Frauen sind Künstler!" Der Wirt schwätzt am Tresen mit den Gästen. Der ehemalige Schlachter Hotta, sturztrunken, wankt von Tisch zu Tisch, setzt sich schließlich zu uns und malt ein derangiertes, wohl ebenfalls alkoholisiertes Schwein auf den Rechnungszettel, ein Reinhard-Lakomy-Fan singt (falsch, aber auch wieder schön, und die Musik aus den Boxen übertönend): „Du könntest mein Mädchen sein." Hernach wird er von Heidi, der Wirtin, nach Hause gebracht.

Roland Abbiate

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