Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Auf der Suche nach der verschwundenen Realität

Das Denken der Terroristen mit unseren Köpfen: Klaus Theweleit zum „11. September"

Nach dem 11. September 2001 sollte nichts mehr so sein wie zuvor. Politiker, Theoretiker, Künstler, Journalisten sahen sich dem Phänomen einer verschwundenen Realität ausgesetzt. Klaus Theweleit ist diesem wahrhaft geheimnisvollen Prozeß nachgegangen und enthüllt in Der Knall die erschütternde und vermeintlich wahre Geschichte der abhanden gekommenen Realität. Neben der Auseinandersetzung mit dem Realitätsverlust der Kommentatorenkasten entwickelt Theweleit im ersten Teil des Buches ein „Kriegsmodell", mit dem das Entstehen von ethnischen und religiösen Kriegen analysiert werden kann.

Playstations 1200-2002

„Ein Kriegsmodell" liest sich wie die perverse Gebrauchsanleitung zur Herstellung eines Bürgerkrieges: Man nehme eine Gesellschaft, in der ethnische Zugehörigkeit, Religion oder ähnliche Zuschreibungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dann gestatte man wahlweise separatistischen, fundamentalistischen oder sonstigen sektiererischen Gruppierungen die Austragung kleinerer Konflikte. Nun heize man mit klischeebeladenen Vorurteilen die Situation an und teile dann nach Sympathie oder auch geopolitischen Interessen die Bevölkerung in Gut und Böse. Im Anschluß lenke man den Blick der Medienöffentlichkeit auf den bis dahin fabrizierten Konflikt und versichere „den Guten" eine nicht näher definierte Unterstützung. Nun muß das Ganze etwas gären, und wenn die ersten Greueltaten und Massaker erfolgt (oder inszeniert) sind, kann ein Eingreifen und letztendliches Auftrennen des ehemals homogenen Systems erfolgreich durchgeführt werden. Mit geringfügigen Variationen funktioniert dieses System seit Jahrhunderten. In den einzelnen Kapiteln, die Theweleit „Playstations" nennt, spielt er dieses Modell durch: Von Cordoba im Jahre 1200 bis hin zu Libyen, Jugoslawien und Afghanistan 2002 ­ Level für Level immer das gleiche Schema: „Soweit ich sehe, sind so ziemlich alle bedeutenden Entmischungen während der Kriege auf dem Balkan oder auch die ‚Entmischung' eines Landes wie Afghanistan nach Zügen dieses Modells abgelaufen. Bei der primären Zerstörung Jugoslawiens spielte der Westen, speziell die deutsche Frühanerkennung, dann die NATO, exakt die Rolle der Kreuzritter: verbündet mit den kroatisch-völkischen römisch-katholischen Freicorpskämpfern zur Befreiung der kroatischen Scholle vom serbischen Joch." Der Ausgang dieser Unternehmung ist bekannt.

In der schematischen und skizzenhaften Darstellung treten die Mechanismen dieser Kriegs- und Machtmaschine deutlich hervor, wodurch dieses Modell an Schärfe und Aussagekraft gewinnt ­ der Preis freilich ist Vereinfachung und der Verzicht auf aufschlußreiche Details und Hintergrundinformationen.

Vernebelte Realität

Umso genauer argumentiert Theweleit dafür im zweiten Teil. Akribisch zerpflückt er das in den allgegenwärtigen Kommentaren zum 11. September konstatierte „Verschwinden der Realität". Genußvoll seziert er die Bild- und Textmaschinen, ob nun gefüttert von Baudrillard, Zizek, Seeßlen, Sonntag, Diederichsen oder anderen. Ihre wortreiche Suche nach „Wirklichkeit" wird mehr und mehr zu einer semantischen Nebelmaschine: Ob nun „reale, virtuelle, mediale, geträumte, halluzinierte, konstruierte" Realitäten ­ ihre Verwendung scheint nach Theweleit „rein willkürlich" zu sein. Der Verlust von Trennschärfe und ­ stärker noch ­ das schwindende Vertrauen in die Begriffe selbst führt Theweleit auf einen radikalen und kaum wahrgenommenen Umkehrprozeß zwischen Subjekt und Objekt zurück: Bislang war das, was im Fernsehen zu sehen war, beschirmt und also sicher: auf der einen Seite der Zuschauer und auf der anderen der allwissende Erzähler, Kommentator, Showmaster. Aber innerhalb weniger Minuten ist dieses Regelwerk zusammengebrochen ­ und wir alle sind Teil eines Ereignisses geworden, das andere produziert hatten: „Effektiver haben noch nie Terroristen mit ‚unseren Köpfen' gedacht", attestiert Theweleit, und so ist der Verlust des Subjekt-Status' ­ als Herr im eigenen Sendezentrum/Wohnzimmer ­ der eigentliche Volltreffer. Die gewohnten Immunisierungsbilder sind zu verstö-renden Infektionsbildern geworden. Der schützende Schein von Computersimulationen und grünleuchtenden Infrarot-Aufnahmen aus den chirugisch-genauen Raketen hatte sich vor unser aller Augen in den Staub der Twin-Towers verwandelt.

Und die Realität? Zum Schluß wird Theweleit versöhnlich und stellt den Kommentatoren die Überforderung mit den (damals) neuen Bildern und Wahrnehmungen in Rechnung. Es ist sinnlos geworden, nach der einen verlorenen Wirklichkeit zu suchen, denn: „Wir haben eine multiple Realität, eine Vervielfachung von Realitäten, unter denen sich die zukünftig tonangebenden (falls es sie geben wird) noch nicht herausgebildet haben." Und das ist ja nicht das Schlechteste, was passieren konnte.

Marcus Peter

> Klaus Theweleit: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Stroemfeld Verlag, Franfurt am Main 2002. 24 Euro

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