Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die lange kurze Kindheit

Widerborstige (N)ostalgie: Jana Hensels heimatlose Generation

(N)ostalgie

Foto: Joachim Scheel

Als 1989 die DDR verpuffte, galt es für die Ostdeutschen, neue Kontinuitäten zu erlangen. Diejenigen, deren Bewußtsein aufgrund ihrer Jugend nicht sonderlich von der Härte des Ordinalstaats kontaminiert war, hatten diesbezüglich sicherlich Vorteile. Dennoch war es unumgänglich, daß unabhängig vom erreichten Status irgendwann Fragen auftauchen würden, inwiefern man vom sozialistischen Alltag geprägt wurde und ohne die Wende noch hätte biographisch beeinflußt werden können.

In dem Essay Zonenkinder versucht die in Leipzig geborene Jana Hensel, die Geschichte und mentale Situation dieser, ihrer eigenen Generation zu beschreiben. Zwölf Jahre nach Auslau-fen des deutschen Sozialismusmodells blickt die 26jährige mit aufklärerischem Impuls in eine („eine andere") Zeit zurück, „die den Geruch eines Märchens hat und für die wir die richtigen Worte nicht mehr finden."

Um den Preis, nur falsche Worte zu finden, schreibt die Autorin für einen Identitätsgewinn all jener, die wie sie mit zwei „halben Leben" auskommen müssen. Sie habe es gehaßt, sich „wie ein Tourist im eigenen Leben zu bewegen". Daß das Ende der Kindheit paßgenau mit dem des ostdeutschen Staates zusammengefallen sei, benutzt Jana Hensel als tragendes Motiv. „Eine ganze Generation entstand im Verschwinden", schreibt sie griffig, und habe „weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen" werden können. Den einen Staat gab es nicht mehr, der andere hielt erst Einzug.

Zum Phantomschmerz um die eine, ungeteilte Kindheit gesellt Jana Hensel das Konstrukt von der verlorenen Heimat, welche sie unlösbar mit der sozialistischen Herkunft verknüpft: „Heimat, das war ein Ort, an dem wir nur kurz sein durften." Unterschwellig, bisweilen auch deutlicher, ist zu vernehmen, daß die DDR für sie und „uns" getrost noch zu ihrem Recht hätte kommen sollen. Und sei es jenes Recht, die Kindheit ohne Kontinuitätsbruch auslaufen zu lassen.

Aus dieser Haltung demonstrativ melancholischer Irritiertheit heraus beginnt die Autorin zu verteidigen, was sie a) kaum kannte und was b) in moralischer Hinsicht dessen kaum würdig ist. Ihre meist widerborstig ausgeführte Nostalgie legitimiert sich aus dem Defizit an Erfahrung von DDR: „Man lernt die Dinge eben erst dann zu schätzen, wenn sie verschwunden sind."

Der staunende und nur unbestimmt kritische Blick auf das Verschwinden von Gewohnheiten und Begriffen führt Jana Hensel auch zum Begriff „Fidschi", einem gängigen Pejorativ für Vietnamesen: „Zu den Fidschis durfte ich nicht länger Fidschis sagen, sondern mußte sie Ausländer oder Asylbewerber nennen." Der Passus ist in zweierlei Hinsicht delikat: Zum einen trauert das Ich der abfälligen, scheinbar korrekten Bemerkung hinterher, zum anderen wird suggeriert, der lässige Zynismus dieses Pejorativs hätte heute keinen Bestand mehr. Im übrigen stimmt es auch nicht, daß es keine Schimpfwörter für in der DDR lebende Kubaner und Mosambikaner gab, wie Hensel anschließend behauptet.

Zonenkinder birgt Pauschalisierungen und Platitüden erheblichen Ausmaßes. Einigermaßen erschreckend ist der Umgang mit Klischees. Die Polen etwa waren „immer zu fünft in einen Polski-Fiat gezwängt". „Die Tschechen aßen immerzu Oblaten und fuhren nichts anderes als Skoda. Der Ungar war elegant, sah gut aus und interessierte sich nicht für den Ostblock." Man kann nur hoffen, daß hier Satire hat stattfinden sollen.

Neben Formen eines solchen paraliterarischen Leichthins findet sich wiederholt rhetorischer Edelpathos: „Wenige von uns sind in ihrer Kindheit an der Ostsee angekommen. Aber viele auf dem halben Weg dorthin irgendwo steckengeblieben, weshalb es mir manchmal so vorkommt, als seien wir all die Jahre zum Meer unterwegs gewesen."

Ohne das „schöne warme Wir-Gefühl" verliefe der enzyklopädische Anspruch des Textes schnell im Sand der Erlebnisse und Bekenntnisse eines heranwachsenden, komplexbeladenen Ichs. Die Wahl des Pronomens allein aber macht noch keine Generationsfibel. Zonenkinder ist problematisch gerade wegen des gleichschaltenden „Wir" und dessen hartnäckig behaupteter Mentalität. Das Buch nivelliert unterschiedliche (über)individuelle Konzepte zu einer Sauce, deren Würze die Larmoyanz ist. Das fängt schon bei der Behauptung an, Walentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltall, sei „unser Vorbild" gewesen – unbedingt also, durchgängig, überall und vielleicht auch in erster Linie. Derart einfach darf man den Gebrauch von Idolen im Sozialismus in einem Text mit soziologischer Ambition nicht etikettieren.

Trotz allem raumgreifenden Bestrebens wird mit Zonenkinder bestenfalls eine kulturelle Elite beschrieben, die auf der Suche scheint nach einem Nest, wo man wirksam, bedeutend und geachtet ist und sein „Wir" bei Gelegenheit auch einmal ausruhen kann. Oft genug ist in Hensels Schilderung das „Wir" schmal und traulich wie eine Kleinfamilie.

Die Interessen dieser Generation bleiben ziemlich unklar. Es entsteht jedoch der Eindruck, als sei sie eher von Pseudo- oder Alibi-Interessen geprägt, stets versehen mit einem Hauch blasierter Apathie. Und tatsächlich lobt die Autorin die Abstinenz von einer sich der Gesellschaft verpflichtenden Haltung. Sie selbst hatte sich in ihrem bundesrepublikanischen Leben an Demonstrationen beteiligt, dann aber, dessen überdrüssig, schnell wieder bloß „ein bißchen zugesehen", wie andere sich politisch betätigten. Wer sich wirklich engagierte, deutet Hensel an, hatte „bloß keinen Job abbekommen und zu viel Zeit". Ihren Argwohn legitimiert sie mit der duldenden Erfahrung eines doktrinären Systems ­ die hier als politisch aktive Zeit mißverstanden wird.

Zonenkinder ist sicher wertvoll darin, Vergessenes aufzurufen. Gelungen ist auch die Darstellung der (kindlich-jugendlichen) Gläubigkeit und später der Fähigkeit, ohne größere ideologische Verluste von Ost auf West umzuschalten. Kaum mehr bloß unangenehm zu nennen sind die vielen Unrichtigkeiten und Unsicherheiten (Waren das nun „Knackis" oder „Assis" in den Altwarenannahmestellen?), die Ambivalenzen in der Betrachtung (miefiger Nachwendealltag vs. fast liebevoll sagten wir „Zone"), die Versuche der Vereinnahmung oder der Einengung, die penetranten Verweise auf eine nachhaltig provinzielle, bildungslose Herkunft, das eingebrachte ex-post-Wissen, die Aufzählungen, welche das Buch teilweise zu einem Buchstabiertisch der Dingwelt werden lassen, oder die aphoristischen Weisheiten, die dem Text definitorischen Charakter verleihen sollen.

Es bleibt der schale Beigeschmack: Mit einer Bewußtseinsführung wie der in Zonenkinder niedergelegten käme man nirgends in einem Leben an.

Ron Winkler

Der Autor gehört zur Generation der am 31.12.1973 in Jena Geborenen.

> Jana Hensel: Zonenkinder. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 14,90 Euro

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