Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1902

21. November bis 18. Dezember

Zu einer großen Schlägerei kommt es in der letzten Novembernacht im Deutschen Wirtshaus von Herrn Sommer in der Friedrichstraße 210. Eine Anzahl Gäste befand sich mit dem Wirt in einem politischen Gespräch, der zu einem Streit führte. In Tätlichkeiten artete die Meinungsverschiedenheit aus, als der Wirt seinen Gegnern zurief, sie wären wohl Sozialdemokraten und sollten sich fortscheren. Wirt und Angestellte auf der einen Seite, die aufgebrachten Gäste auf der anderen werden handgemein. Bald wälzt sich ein wirrer Knäuel von sich katzbalgenden Menschen vor dem Buffet hin und her. Gläser, Flaschen werden umgestoßen, ein Streitender zerschlägt mit einem harten Gegenstand das Schaufenster. Ein großer Menschenhaufen hält von der Straße her den Eingang zum Lokal besetzt. Schließlich machen mehrere Polizeibeamte dem Tumult ein Ende und bringen fünf Gäste zum nächsten Polizeirevier, die später wieder entlassen werden. Herr Sommer ist am Auge so stark verwundet, daß er eine Augenklinik aufsuchen muß.

Charlotte Dietrich feiert am 1. Dezember ihren 100. Geburtstag. Eine Morgenmusik leitet den Tag ein, wonach ein Doppelquartett des Berliner Männer-Gesang-Vereins die Jubilarin begrüßt. Es folgt dann Deputation auf Deputation, so vom Bezirksverein, von den Berliner Freischützen und von der Armencommission, der als Mitglied Herr Schultz angehört, bei dem die Greisin wohnt. Dazu treten in unendlicher Zahl die Verwandten, Freunde und wer sonst an dem Tag Anteil nimmt. Das Geburtstagskind sitzt in einem schwarzseidenen Kleide, ein weißes Häubchen auf dem Kopf, auf einem guirlandengeschmücken Sessel und nimmt voll regen Interesses die Glückwünsche entgegen. Unter den Telegrammen, die ununterbrochen einlaufen, befinden sich auch Drahtungen ihres Geburtsortes Schönfließ und der Stadt Sternberg, deren Oberhaupt ihr Gatte einst gewesen ist. Der Vorsteher ihres Reviers, Polizeileutnant Schmidt II überbringt ihr ein Geschenk vom Kaiser mit einem Schreiben: „Berlin, 1. Dezember 1902. Seine Majestät der Kaiser und König haben erfahren, daß es Ihnen durch Gottes Gnade vergönnt ist, am heutigen Tage Ihr 100. Lebensjahr zu vollenden, und lassen Ihnen zu diesem seltsamen Fest Glück und Segen wünschen. Zugleich haben Seine Majestät als Zeichen Allerhöchstihrer Antheilnahme die beifolgende, mit Allerhöchstihrem Bildniß geschmückte, in der königlichen Porzellanmanufactur gefertigte Tasse, sowie das gleichfalls beiliegende Gnadengeschenk von 300 Mark zu verleihen geruht. Auf Allerhöchsten Befehl setze ich Sie hiervon in Kenntniß. v. Lucanus." Ihren Nachmittagskaffee verlangt Frau Dietrich aus der „Kaiser-Tasse" zu trinken, und der geliebte Mocca scheint der alten Dame daraus besser als sonst zu munden.

Eine Zufluchtshalle in der Ackerstraße 52 eröffnet am selben Tag der Verein „Dienst an Arbeitslosen". Diese Zufluchtshalle, die für 300 Personen ausreicht, ist als Ergänzung der großen Wärmehallen am Alexanderplatz für die jugendlichen Obdachlosen im Alter bis zu 20 Jahren bestimmt, denen dort der Zutritt verweigert wird. Die Halle bildet zugleich die Vorhalle für das daran stoßende Meldezimmer der Jugendhilfe des Vereins, wo jungen Leuten in Not Rat und Hilfe gewährt wird. Die Zufluchtshalle ist mit Bibelsprüchen geschmückt, Zeitungen, Unterhaltungsblätter und Bücher stehen zur Verfügung. Jeden Morgen wird der Tag mit einer Andacht eröffnet, zur körperlichen Erquickung wird Suppe für 5 Pfennig, Kaffee und Brot für 2 Pfennig ausgegeben.

Falko Hennig

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