Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Russe mit deutschem Paß

Ein Interview mit Dmitrij, Spätaussiedler aus Krasnojarsk/Rußland

Seit wann lebst du in der BRD?

Ich bin Dezember '99 mit meiner Tochter, meiner Frau und ihren Eltern nach Deutschland gekommen, am Anfang nach Baden-Württemberg in ein Aufnahmelager, wo zuerst behördliche Fragen geklärt wurden. Obwohl wir in Baden-Württemberg bleiben wollten, weil dort Freunde von uns wohnen, schon seit sieben Jahren, wurden wir im Januar nach Berlin geschickt. Die Spätaussiedler sollen gleichmäßig über die Bundesländer verteilt werden, und selbst kann man sich einen Ort nur aussuchen, wenn man dort Verwandte hat.

Was waren die Gründe für die Aussiedlung?

Meine Schwiegermutter wollte nach Deutschland. Sie war einmal zu Besuch bei ihrer Schwester in Düsseldorf und konnte das Leben dort mit dem in Rußland vergleichen. Sie und ihr Mann stammen beide aus deutschen Familien. Mein Schwiegervater wollte eigentlich nicht weg, er war, wie unsere ganze Familie, zufrieden mit dem Leben, das wir in Krasnojarsk hatten. Dort konnten wir uns vergleichsweise mehr leisten als jetzt in Deutschland. Meine Schwiegermutter hat sich um alle Anträge gekümmert, wir anderen haben sie machen lassen. Als dann nach drei Jahren schließlich die Erlaubnis zur Ausreise da war, haben wir noch ein Jahr gebraucht, bis wir uns alle dazu entschlossen hatten. Die Kinder müssen auf ihre Eltern hören, das ist die russische Erziehung ­ aber die Entscheidung war nicht einfach.

Hast du, habt ihr diese Entscheidung inzwischen schon mal bereut? Russen haben doch immer Heimweh ...

Das ist zwischen uns kein Thema; die Stimmung ändert sich von Tag zu Tag. Man muß sich kleine, realistische Ziele stecken und sie Schritt für Schritt zu erreichen suchen. Für meine Schwiegereltern ist ein Leben in Rußland mit einer winzigen Rente jetzt realistisch gesehen unvorstellbar (auch wenn die deutsche Rente nicht besonders hoch ist). Um die Zukunft meiner Tochter steht es in Deutschland auch besser, wie ich hoffe; für viele begabte Kinder gibt es in Rußland jetzt kaum gute Ausbildungsmöglichkeiten: Malschule, Ballett ­ das müßte alles teuer bezahlt werden. Auch meine Frau hat als Ärztin hier gute Chancen.

Ich selbst vermisse meine Freunde; hier gibt's Bekannte, aber Freunde, das ist etwas anderes, Leute, mit denen man Schwierigkeiten gemeinsam durchsteht. Als Rentner kehre ich vielleicht wieder zurück in ein kleines russisches Dorf.

Haben sich die Erwartungen an Deutschland, an ein Leben in der BRD erfüllt?

Ich habe mir ein ruhiges, sicheres, abgesichertes Leben erwartet, und das hat sich erfüllt. Ich habe mit einer schnelleren Integration gerechnet. Schuld daran, daß das doch so lange dauert, ist einerseits die deutsche Bürokratie. Alle Unterlagen brauchen viel Zeit; vor allem aber sind es die Sprachprobleme: Ich habe erst hier Deutsch gelernt, fast ohne Erfahrungen mit Fremdsprachen ­ und ohne Sprache gibt's auch keine Arbeit.

Wie beurteilst du nach deinen Erfahrungen das Verhältnis der Deutschen zu Aussiedlern aus Rußland?

Ich habe wenig Kontakte zu Deutschen. In meiner Fortbildung für Maschinenbau-Ingenieure sind wir alle gleich gut ausgebildet und in einer ähnlichen Situation, vor allem Ossis haben ähnliche Probleme wie Spätaussiedler. Im Fußballverein hatten wir das gegenseitige Verhältnis schnell geklärt. Es kommt schon vor, daß es jemand nicht paßt, wenn ich mich in der Öffentlichkeit auf Russisch unterhalte. Mittlerweile kann ich gut genug Deutsch, um darauf zu antworten. Im allgemeinen sind die Deutschen aber tolerant zu den Ausländern in ihrer Umgebung, finde ich.

Welche sind die markantesten Unterschiede zwischen dem Leben in Rußland und der BRD?

Das Leben in Deutschland ist ganz anders als in Rußland ­ obwohl vieles auch ähnlich ist. Was genau die Unterschiede sind, kann ich jetzt nicht sagen. Mir scheint, meine Erfahrungen reichen noch nicht aus. Wenn ich Arbeit gefunden habe, kann ich besser sehen, wie sich's in Deutschland lebt, als jetzt, wo mich das Sozialamt unterhält.

Ein Unterschied sind die Grundschulen: Meine war sehr gut, ich würde sagen, früher waren sie in Rußland sehr gut; die Schule stand immer auf dem ersten Platz im Leben eines Kindes. Hier wird nicht so viel gefordert, es gibt zu wenig Hausaufgaben; aus meiner Schule konnten nach der ersten Klasse alle lesen ­ meine Tochter kann's nach der ersten noch nicht.

Ich will noch betonen, daß ich nicht repräsentativ bin. Jeder Spätaussiedler wird dir anders antworten. Ich bin außerdem gar kein richtiger Spätaussiedler, sondern Russe mit deutschem Paß. Außerdem nehmen Sibirjaken Deutschland bestimmt ganz anders war als Leute aus Moskau oder Sankt Petersburg.

Interview: Thomas Keith

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