Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die Neue Gesellschaft für bildende Kunst zeigt 312 „evolutionäre zellen"

Stephan Riemer schreibt selbstbewußt: „Ich bin eine evolutionäre Zelle." Seit sieben Jahren reist er durch Amerika und Europa und baut dort nicht nur Gartenzäune und Windkraftanlagen, sondern hinterläßt nach eigenem Bekunden auch seine Lebensweise als Denkanstoß. Riemer ist einer von 312 Einzelpersonen und Kollektiven, die an dem von der Frankfurter Gruppe „finger" in Zusammenarbeit mit der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK) ausgelobten Wettbewerb „evolutionäre zellen" teilnahmen. Gesucht wurde nach „selbstbeauftragtem Gestalten gesellschaftlicher Perspektiven", und die Jury, der u. a. Ute Meta Bauer, die Glücklichen Arbeitslosen, indymedia.de und Pater Gregor Böckermann von der Initiative Ordensleute für den Frieden angehörten, hatte 15000 Euro an Preisgeldern zu verteilen.

In der Ausstellung, die noch bis zum 1. Dezember in den Räumlichkeiten der NGBK gezeigt wird, läßt die Jury sich in die Karten blicken: Dort werden nicht nur alle 312 Einsendungen vorgestellt, es wird auch transparent gemacht, wie weit die einzelnen Beiträge im Wettbewerb gekommen sind. Will man sich ein einigermaßen genaues Bild von den eingereichten Arbeiten machen, muß man freilich einen halben Tag erübrigen. Nicht nur das Anschreiben, in dem die Teilnehmer ihr Projekt vorstellen, will rezipiert werden, viele Beiträge sind zudem mit weiterem Bild- und Videomaterial unterfüttert.

Wettbewerb und Ausstellung, und das ist die Stärke der „evolutionären zellen", gelingt es, Künstlerbeiträge und soziale Initiativen ohne ästhetischen Mehrwert in ein und demselben Kontext zur Debatte zu stellen. Dabei reicht das Spektrum vom esoterischen Quatsch einer Suche nach „Stadtenergie" und einem „Bündnis zur Abwehr biologischer Invasoren" zum Erhalt der „heimischen Artenvielfalt" bis hin zu Wohnprojekten, der Künstlerzeitschrift ENTWERTER/ODER , einer „Tischtennisguerilla" oder der Spaßkandidatur Heinz Baumüllers für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten.

Viele Projekte sind ernüchternd kleinteilig und bescheiden in ihrem Anspruch ­ ohne gesellschaftliche Perspektive oder gar Vision: Da wird eine Haltestelle in Frankfurt am Main zu einer „Gernwartestelle" umgestaltet; da werden Teilnehmer einer Drogen-Substitutionstherapie mit Hunden zusammengebracht. Wenn Carsten Joost, selbstbeauftragter Stadtplaner, über „postrevolutionäre Architektur" nachdenkt, so ist dieser Anspruch die Ausnahme. Vom „selbstbeauftragten Gestalten" ist es eben oft nur ein kleiner Schritt zur staatsentlastenden Hilfe durch Selbsthilfe nach dem Ge- schmack amerikanischer Kommunitaristen.

Unter den Preisträgern gibt es Projekte, die das aufweisen, was Claudia Hummel von der Gruppe finger „symbolische Effizienz" nennt, und also auch dem künstlerisch Versierten etwas zu bieten haben. So etwa die Organisation ADOPTED, die Europäern afrikanische, asiatische oder südamerikanische Pateneltern vermittelt. Eine witzige Idee: Der deprimierte Europäer kann zu „seiner" Familie um die halbe Welt jetten. Nicht weniger orginell das Belgrader Projekt SURVIVAL COUPONS. Die Gruppe Skart verteilt dort in den Warteschlangen der Notleidenden und auf Veranstaltungen mit einzelnen Worten wie „Orgasmus", „Macht" oder „(r)evolution" bedruckte Lebensmittelkarten-Imitate und sorgt damit für Gesprächsstoff. Wirklich sinnvolle Arbeit, praktisch-politisch und nicht bloß symbolisch, leistet die Flüchtlingsinitiative Brandenburg, die sich für die Abschaffung der diskriminierenden Residenzpflicht einsetzt; sie wird die 3000 Euro nutzbringend verwenden können.

Ebenso als preiswürdig befunden wurde die Gruppe Swoon Union, die in New York mit Plakatationen auf sich aufmerksam macht. Etwas albern, weil gerade der Boykott einer Plakataktion, ist der Beitrag eines Berlin-Besuchers, der die handgeschriebenen Pamphlete eines Kreuzbergers von dessen genehmigter Hauswand, dem Speaker's corner, immer wieder einsammelte und als evolutionäre Zelle empfahl. Immerhin hat die Geschichte ein happy end, denn das Preisgeld wollten weder der „Plakatdieb" für sich, noch der genervte Schreibkünstler. Beide gaben es an eine Initiative weiter, die ebenfalls am Wettbewerb teilnahm.

Florian Neuner

> Die Ergebnisse des Ideenwettbewerbs „evolutionäre zellen" sind noch bis zum 1. Dezember in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in der Oranienstr. 25 in Kreuzberg zu sehen. Täglich geöffnet von 12 bis 18.30 Uhr.

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