Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Wildwest in Friedrichshain

Das Entertainment-Viertel am Ostbahnhof nimmt Form an

Es war nicht klar, ob Kevin Murphy wußte, von welcher Stadt er eigentlich sprach, als er die Berliner Planungen der Anschutz Entertainment Group (AEG) vorstellte. London, Prag, Los Angeles? Mit ungläubigen Mienen lauschte der Bauauschuß der BVV Friedrichshain-Kreuzberg am 24. Oktober, als der Deutschlandvertreter des milliardenschweren Anschutz-Clans aus Denver sein sonores Gebrabbel zum Besten gab – ohne dabei seiner Übersetzerin Pausen zu gönnen, sodaß stets beide gleichzeitig redeten. Die Ausschußsitzung wurde zum Anschutzmonolog.

Es ging dabei um die Zukunft des Areals zwischen Ostbahnhof und U-Bahnhof Warschauer Straße. Ohne gestalterische Besonderheiten wird das Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs auf bunten Folien mit Blocks und Hochhäusern gepflastert. In endlosen Aufzählungen werden immer wieder „Baars, Bänks, Restrants" versprochen, auch showrooms für den Verkauf von Automobilen und shopping, auf knapp 40000 Quadratmetern. Wo heute noch Platz für Clubs und Underground ist, sollen einmal rund 600000 squarefeet Büro- und Einzelhandelsfläche entstehen, oder auch Quadratmeter ­ das ist an diesem Abend nicht so wichtig.

Es wird sofort klar, der Mann hat Fantasie – und Humor, wenn auch eher unfreiwillig. Zahlreiche Lacher erntete er, als seine Video-Reklametafeln zum Thema wurden. Der Bau der gigantischen Veranstaltungshalle „Berlin National Arena" mit 16000 Plätzen im Zentrum des Areals hängt nach Murphys Meinung nämlich einzig und allein von der Genehmigung dreier Videowände ab. Eine hängt auf der Rückseite der Arena und soll mit einer Breite von 22 Metern Europarekord werden, eine andere lugt über die Brücke an den S-Bahngleisen, und die umstrittenste steht hinter der East Side Gallery am Spreeufer. Diese befindet sich nicht auf dem Anschutzgelände und ist aus Denkmalschutzgründen nicht genehmigungsfähig. Murphys Vorschlag, die Werbetafel am Mauerstreifen auf einen alten Grenzturm zu setzen, provozierte die Lachmuskeln der Anwesenden. Schließlich wurden die BVV-Mitglieder erpreßt: ohne Schilder keine Arena! Und zwar schnell: Bis 2006 muß alles fertig sein, dann ist Fußball-WM und es winkt das große Geld. Wildwest in Friedrichshain.

Auch beim Thema Hochhäuser ging es amerikanisch zu. Es komme darauf an, was man gewöhnt sei, und seine Heimat Los Angeles sei eine tolle Stadt. Also können 160 Meter an der Warschauer Straße nicht zuviel sein. Auch die Architekten Hemprich und Tophof meinen, daß Friedrichshain eine landmark braucht, einen „indentitätsstiftenden" Höhenakzent. Hier bestätigt sich eine alte Regel: Ein Hochhaus legitimiert das nächste. Angesichts der zehn Hochhäuser am Alex (die ja noch lange nicht stehen) ist gegen drei auf dem Anschutzgelände nichts zu sagen. Auch die einsamen Treptowers dürfen nicht länger alleine bleiben.

Zunächst einmal geht es jedoch um das schnellstmögliche Hochziehen der National Arena, die ihrem Namen durch wuchtige Gesten gerecht wird. AEG ist Sportstättenspezialist und hat sich die Berliner Eisbären gekauft, die hier ihr Domizil erhalten sollen.

Ein weiterer Schwerpunkt der Planung ist das Entertainment-Center. Hier ist neben movie-theaters auch ein live-theater vorgesehen, ein Musicaltheater mit 3500 Plätzen, genutzt von einer kanadischen Produktion namens Cirque du Soleil, die derzeit in Las Vegas beheimatet ist. Las Vegas-Amüsement, bunte Lichterchen entlang des Spreeboulevards, eine vollsanierte Mauer, die jetzt wirklich 100 Jahre hält, und davor eine palmenumsäumte Riesenvideowand: Wenn das keine rosigen Aussichten sind!

Etwas enttäuscht gab sich Kevin Murphy angesichts der Tatsache, daß sich der Bezirk an seinem Entertainment-Viertel nicht beteiligen will, ja womöglich nicht einmal der Senat. Zu 100 Prozent will die AEG das alles aber nicht bezahlen – Diskussionstoff für die BVV, soll-te man meinen. Dennoch haben die Bezirksverordneten jüngst das Gesamtprojekt ohne Diskussion gebilligt. Frank Schulz, der Leiter des bezirklichen Stadtplanungsamts, hatte schon vor einem halben Jahr seine Einschätzung zum besten gegeben: „Wir leben nicht in einer Zeit, in der die Investoren Schlange stehen." Und so sei es „ein Glücksfall, daß wir dem Investor etwas anbieten konnten." Diese devote Haltung wird auch die AEG gepürt haben.

Von der Forderung aber, die Videotafel an die Nordseite der Mühlenstraße zu verlegen, will der Bezik nicht abrücken. Neulich reiste Klaus Wowereit nach Los Angeles, um mit AEG-Chef und Multimilliardär Phillip Anschutz zusammenzutreffen. Dabei hätte das Problem schnell gelöst werden können: Ohne das Schild hinter der Mauer keine Arena – und Las Vegas bleibt da, wo es hingehört.

Carsten Joost

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