Ausgabe 10 - 2002 berliner stadtzeitung
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Vom Brückenschlagen

Eine Podiumsdiskussion zur Annäherung von Wedding und Prenzlauer Berg

Die Behmstraßenbrücke ist kein Beispiel sonderlich zielstrebiger Stadtentwicklung. Die Bauarbeiten an der S-Bahn hatten einen Baustop bewirkt, so daß über Jahre nur ein schmaler Fußgängersteg den Prenzlauer Berg mit dem Wedding verband. Am 18. November wurde nun die „letzte Ost-West-Brücke im Norden Berlins" für Autos geöffnet – zur Erschließung des ICE-Bahnhofs, der am Gesundbrunnen entsteht, und zur Entlastung der überfüllten Bösebrücke. Viele Anwohner befürchten nun eine enorme Blechlawine.

Die Brücke ist aber mehr als nur eine weitere dummdreiste Verkehrsplanung, sie ist auch Symbol. Seit 13 Jahren reden die Berliner Planer von nichts lieber als vom „Annähern" und „Zusammenwachsen" von Ost und West, vom Schließen von „Lücken" und „Wunden", vom „Narben verheilen", „Tore öffnen" und eben vom „Brückenschlagen". Was bedeuten diese naiven Metaphern für die konkrete Entwicklung des ehemaligen Grenzbereichs? Unweit der Stelle, wo am 9. November 1989 der erste Grenzer den Schlagbaum hob, organisierte die Filmemacherin Sira Ullrich eine Ausstellung mit dem Titel „Übergang" und eine Reihe von Veranstaltungen, bei denen Künstler, Soziologen, Politiker und Anwohner miteinander ins Gespräch kommen sollten. Es gelang ihr hervorragend: Die Podiumsdiskussion am Morgen des 10. November ähnelte phasenweise einem guten WG-Frühstück.

Daß der nördliche Prenzlauer Berg wenig mit dem Gesundbrunnen gemein hat, mußte kaum diskutiert werden. Im Osten Gründerzeitbebauung, zum Teil schon unter Honecker behutsam saniert, mit steigenden Mieten und ­ seit dem umfassenden Bevölkerungsaustausch der Neunziger ­ sehr vielen Akademikern, die zum Großteil noch Studenten oder schon arbeitslos sind. Im Westen viele Neubauten, das Ergebnis einer Kahlschlagsanierung, die von Willy Brandt angezettelt worden war und den Großteil der Alteingesessenen vertrieben hatte. Auch hier viel Arbeitslosigkeit, aber eine andere: Viele Weddinger haben keine gute Ausbildung, ja nicht einmal die deutsche Staatsbürgerschaft ­ bei der Arbeitssuche hat das oft den Effekt einer Vorbestrafung. Hier herrscht die Krise. So kam es, daß der Wedding vom schnöseligen Bürgertum nach wie vor gemieden wird, was den Türken hoch anzurechnen ist.

Werner Sewing, einer der beiden Soziologen auf dem Podium, rechnet mit keiner schnellen Veränderung. Für große Erneuerungen und Umwälzungen gibt es in Berlin kein Geld mehr, auch die Yuppies, die für eine Yuppysierung des Wedding unerläßlich wären, sind eher auf dem Rückzug. So wird auch der soziologische Kontrast und die unsichtbare Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Gesundbrunnen noch lange Bestand haben. Aber Grenzen gibt es auch innerhalb der Bezirke, wo man außer Arbeit und Kita-Platz alles im eigenen Kiez zu finden gewohnt ist. „Berlin besteht ohnehin nur aus Kiezen", meint Sewing, „außer Mitte, aber das gehört ja auch zu Westdeutschland." Wo ist also das Problem?

Die Soziologin Lena Schulz zur Wiesch sprach sich zwar nicht gegen Kieze, wohl aber gegen Ghettos aus, wo die Menschen zum Bleiben gezwungen sind. Wenn sich eine unfreiwillige Sortierung etabliert, erläuterte sie, „müssen wir durchmischen". Allerdings vergaß sie zu erwähnen, daß eine „Durchmischung" wie im Prenzlauer Berg für die meisten Weddinger die Vertreibung bedeuten würde. Auch die vielgerühmte Bürgerbeteiligung kann da nicht viel ändern; und niemand kann den Türken verübeln, daß sie sich grundsätzlich nicht daran beteiligen.

Sind die wohlmeindenden staatlichen Stadterneuerungsprogramme wirklich integrativ? Oder hat Sewing Recht, wenn er das Ideal der „Sozialen Stadt" als „soziologisch naiv" bezeichnet? Wenn ein Kiez zu Wohlstand kommt, so Sewing, gibt es nur zwei Alternativen: „Entweder die Reichen gehen weg – oder sie vertreiben die Armen." Ist es also überhaupt wünschenswert, daß sich der Wedding dem gentrifzierten Prenzlauer Berg „annähert"? Hier gab es Diskussionsstoff. Über das romantische „Brückenschlagen" zwischen Ost und West hingegen verlor niemand mehr ein Wort – das blieb der offiziellen Eröffnungszeremonie der Behmstrassenbrücke vorbehalten.

Johannes Touché

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