Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Erscheinungsbild: neutral

Konzepte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Praxistest: Profiling

„Mut" steht auf dem Zettel, den mir meine sogenannte Arbeitsvermittlerin mit den Worten in die Hand drückt: „Da müssen Sie hingehen!" Ich bin auf einen Schlag entmutigt. Ob ich da wirklich hingehen muß, frage ich nicht. Ich bin eine von den 26000 Arbeitslosen, die auserwählt wurden, an einer neuen Live-Show des Arbeitsamtes teilzunehmen. „Profiling" heißt das Zauberwort, und es handelt sich dabei um einen Teil des seit Januar über einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung gekommenen Job-AQTIV-Gesetzes.

Zwei Wochen später ist es soweit: Der erste Tag der Arbeitslosennachhilfe bricht an. Bis zu vier Wochen kann das dauern. Ich betrachte die Angelegenheit inzwischen als eine Art Selbsterfahrung und schreite forschen Schrittes meinem neuen Bildungsträger entgegen.

Die „Profilerin", die manche Teilnehmer mit „Frau Doktor" anreden, erläutert zur Einführung knapp das Job-AQTIV-Gesetz ­ besonders lustig, so erfahren wir, sei das „Q", es stehe für Qualifizierung! Doch lernen würden wir beim Profiling nichts, dafür gebe es noch weitere Maßnahmen bei derselben Einrichtung. Aus Amerika und England käme die Methode. Das läßt Ungutes ahnen.

Frau Doktor: Haben Sie jetzt noch Fragen?

Ein Teilnehmer: Na, wann issn heute Schluß?

Ein weiterer Teilnehmer: Wie lange machen wir Pause?

Ein dritter Teilnehmer: Müssen wir morgen eigentlich wiederkommen?

Daraufhin werden wir erstmal in die Pause geschickt, die eigenmächtig verlängert wird. Der zweite Teil beginnt mit der befürchteten Vorstellungsrunde.

Eine Teilnehmerin: Mein erster Beruf war Deutsche Bahn, mein zweiter Deutsche Post.

Der bunte Reigen führt weiter über eine Krankenschwester aus Kasachstan, einen Schwarzarbeiter aus südlichen Gefilden und einen Müller, über eine peruanische Lehrerin bis hin zu einem deutsch-türkischen Flugzeugabfertiger.

Der Flugzeugabfertiger: Ick hatte den Arbeitsvertrag schon fast inne Tasche. Und denn: 11. September, Bin Ladin hat mir alles versaut. Die haben dann nur noch gesagt: Mit Ihrer Herkunft dürfen wir Sie erstma gar nich einstellen!

Am folgenden Tag nimmt uns Frau Doktor richtig ran. Jetzt ginge es um eine Art innere Inventur. Das Ergebnis sollen wir dann auf dem „Sondierungsbogen" vermerken, dafür hätten wir aber mehrere Tage Zeit. Es gilt, die eigenen beruflichen Fähigkeiten, aber auch die Schwächen herauszufinden. Jetzt kommt also der Selbstkritik-Teil! Wie so etwas ginge, würden wir zunächst gemeinsam üben.

Frau Doktor: Was denken Sie, muß denn eine Verkäuferin so alles können?

Der Flugzeugabfertiger: Na hübsch musse sein!

Der ältere Kurierfahrer: Die müssen doch nur noch putzen und Regale einräumen, Ware übern Scanner ziehen, det kann doch jeder Napp!

Der Müller: Also Freundlichkeit kann man von denen nich erwarten, die stehn doch ooch alle unter Druck!

Der Eisenflechter: Reden wir hier von 'ner ALDI-Verkäuferin oder von eener bei Karstadt?

Die Call-Center-Leiterin: Eigentlich sind wir doch alle Verkäufer, Sie wollen uns hier doch auch nur Ihr Zeug andrehen!

Schließlich muß Frau Doktor doch selbst die Pointe erklären: Rechnen und verkaufen können, das sollte zu den Fähigkeiten einer Verkäuferin gehören.

Zweiter Teil der Übung:

Frau Doktor: Nun stellen Sie sich doch mal vor, Sie wären Chef und müßten ein Einstellungsgespräch führen!

Der ältere Kurierfahrer: Nee, also det, beim besten Willen, ick werd ja schon zu Hause immer unterdrückt!

Die Truppe kommt in Stimmung.

Meine Banknachbarin: Gut, also ich mache ein Beate-Uhse-Franchising auf, und Du bewirbst Dich bei mir!

Mich stimmt dieser unverhoffte Weg in die Zukunft heiter, Frau Doktor jedoch sieht ein, daß sie so mit uns nicht weiterkommt und befragt uns nun zu Assessmentcenter-Methoden, ob wir davon wohl schon mal was gehört hätten.

Meine vorlaute Nachbarin: Das ist ja wohl die ungeeignetste Methode, um rauszukriegen, ob jemand fähig ist oder nicht! Da werden die Leute doch nur fertiggemacht, und am Ende wissen Sie noch nicht einmal, warum Sie durchgefallen sind. Alles nur Simulation!

Für Simulation hat auch Frau Doktor eine Schwäche. Wir könnten doch, nach einer Pause wohlbemerkt, ein paar Tests absolvieren, die gern bei Einstellungsgesprächen gemacht würden. Dieser Vorschlag stößt auf heftige Gegenwehr.

Die Call-Center-Leiterin: Kann ich mich ja gleich nackig ausziehn!

Auch ich bin nicht besonders scharf auf derartige Tests und fordere freiwillige Teilnahme. Wenn ich mich beschweren wolle, sollte ich dies beim Arbeitsamt tun, bekomme ich zur Antwort. Die andere Version, mit der Geschäftsführung dieser Bildungsakademie zu reden, erscheint mir noch unangenehmer. Wir Widersacherinnen geben also klein bei und lassen die Spaßvögel gewähren, die die Tests eher als eine Art Stadt-Land-Fluß betrachten.

Im ersten Test üben wir uns in „schlußfolgerndem Denken". Erfolgreich mit Abgucken vervollständigen wir Zahlenreihen:

2, 4, 6, 8, 10, ..., ...;

1, 2, 4, 8, 16, ..., ...;

und so weiter. Dann der schwierigere Teil: Wir sollen Flächen von geometrischen Gebilden zählen. Und zwar nicht nur die sichtbaren, nein, auch die unsichtbaren! Mir steigt der Schweiß auf die Stirn, und ich überlege, ob ich nicht gerade im Begriff bin, schreckliche Bauch-, Zahn- oder andere Schmerzen zu bekommen. Da ist die Zeit auch schon um, und der dritte Test flattert auf meinen Tisch. Analogien bilden! Glücklicherweise wird uns der Vorgang anhand eines Beispiels nahegebracht: Wenn „klein" zu „groß" paßt, welches Wort paßt dann zu „breit": a) dick b) schmal c) riesig d) Körpergröße?

Dann die entsprechende Aufgabe, erste von fünfzehn solcher kniffligen Herausforderungen:

Teller : essen = Sessel : ?

a) aufstellen b) Bank c) sitzen d) Wohnung

Neidisch beäuge ich den hinter mir Sitzenden. Er verfügt über gutes Rüstzeug: In der Pause hatte er sich „aktive Sterbehilfe" besorgt, wie meine Banknachbarin die Billigbiermarke nennt. Doch nach dem dritten, wiederum erfolgreich bestandenen Test werden wir für den Tag entlassen, und der Müller verabschiedet sich mit den Worten:

Der Müller: Det war aber heute wieder sehr aufschlußreich!

Die dritte Unterhaltungssendung zeitigt weniger Enthusiasmus als die vorherigen. Besonders der Kunststoffhersteller fällt durch unnötigen Eifer auf. Als es um Lohnfragen geht, trumpft er mit Vorschlägen für Arbeitszeitreformen auf, die mehr Gerechtigkeit unter Schichtarbeitern sähen sollen.

Der ältere Kurierfahrer: Jaja, jetzt denk mal schön zu Hause drüber nach, wir haben heute noch wat anderet zu tun.

Frau Doktor: Um ehrlich zu sein, davon werden Sie wohl keinen Unternehmer überzeugen können, und die Politik hat in Deutschland nun mal nicht das Sagen. Der Wirtschaftsminister ist ja auch nur dazu da, Förderprogramme für die Industrie zu verwalten.

Wie wir uns eine Arbeitsstelle denn vorstellen würden, heißt die heutige Beschäftigungsfrage, und welche Branchen relativ krisensicher seien. Langeweile macht sich breit. Die IHK habe, so Frau Doktor, gewisse Statistiken, in denen ganz oben die Arbeit nicht nur am kranken, sondern auch am gesunden Menschen stehe ­ Fachreferentin für Wellness und Fitness z.B.! Aber auch der öffentliche Dienst sowie doch wieder die IT-Branche seien Arbeitgeber mit Zukunft. Meine Banknachbarin hat einen Kater und ist heute wenig erfrischend.

Da nimmt uns Frau Doktor in ihr Vertrauen:

Frau Doktor: Aber um ehrlich zu sein, vielleicht ist es ja gar nicht nötig, daß die vier Millionen Menschen alle arbeiten, wir könnten die doch eigentlich ganz gut durchbringen. Sollen sie doch einfach einen Zettel unterschreiben: Ich will nie wieder arbeiten, und dann kriegen sie ihr Leben lang Sozialhilfe. Das ist doch fast schon 'ne philosophische Frage!

Meine Sinne erwachen ­ hat sich der Glückliche-Arbeitslosen-Virus bis in Arbeitslosenverwaltungsakademien vorgegraben oder ist Frau Doktor eine Privat-Revolutionärin? Der Fortgang der Sache scheint spannend zu werden. Gibt es jetzt den ersten Aufruhr der Unterdrückten im Deutschland des neuen Jahrtausends? Sind wir die Elite?

Die Kindergärtnerin: Genau, da gibt's doch auch diesen Tauschhandel, der jetzt in Schwung kommt überall in Europa. Da geht alles ohne Geld.

Irgendjemand: Da kann man alten Menschen helfen oder kochen oder was und dann dafür Punkte sammeln.

Der Flugzeugabfertiger: Also in meiner Jesellschaft lernt man so was schon als Kind, da muß man nicht Punkte sammeln, so'n Quatsch. Wenn mein Vater alt ist und nicht mehr kann, dann bin ick da für ihn!

Das Gespräch verplätschert langsam in Träumereien von einem kühlen Naß, auch meine Konzentration läßt schuld dieser zwei Stunden anstrengendster geistiger Tätigkeit merklich nach. Eigentlich wollen wir doch nur alle gehen.

Einige Tage später muß ich zum Einzelgespräch erscheinen. In mühseliger handschriftlicher Arbeit wird Frau Doktor mein Profil erstellen, und ich werde endlich erfahren, was dies bedeutet.

Frau Doktor: Von wann bis wann sind Sie denn zur Schule gegangen?

Aha. Mein Lebensverlauf ist gefragt, natürlich nur in Bezug auf meine ­ schwer unterentwickelte ­ Marktfähigkeit. Daß ich selbigen bereits mehrmals dem Arbeitsamt persönlich dargelegt habe, ist jetzt nicht von Interesse.

„Was, der Hof ist schon sauber? Dann wird er eben nochmal gefegt!", sagte bereits meine Urgroßmutter zu meiner Großmutter.

Frau Doktor: Sie könnten doch so schön in der Tourismusbranche arbeiten!

Wir spielen Berufsberatung. Ob man mich mit 63 immer noch fragen wird, welches mein Berufswunsch sei? Was ich sonst noch so könne? Ich sage jetzt nichts von Abhängen, TV gucken und Bier trinken, schließlich hätte ich ja als Arbeitslose einige Klischees zu bedienen. Nein, ich wechsle charmant die kommunikative Strategie.

Ich: Haben Sie schon mal was von den Glücklichen Arbeitslosen gehört?

Frau Doktor (lächelt): Nee, hat das was mit der Tunix-Bewegung zu tun?

Ich verneine und packe den müßiggangster aus. Für Informationen von der Basis ist mein Gegenüber offen. So recht glücklich sei der Soziologe von heute auch nicht, spricht sie sich aus. Mangelnde Solidarität unter Kollegen sei zu beklagen, und auch den Altachtundsechzigern ginge es nur um ihren ganz privaten Reichtum.

Aber da hat auch schon mein Stündlein geschlagen, zu dem ich entlassen werde.

Ich: Was passiert eigentlich mit diesem Blatt Papier, das Sie mit unnützen Informationen über mich beschrieben haben, liest das wer?

Frau Doktor: Das kann ich nicht sagen.

Ich halte es wie der Müller und verabschiede mich mit den Worten:

Ich: Das war aber heute wieder mal sehr aufschlußreich.

Mila Zoufall

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