Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Der Esel ist ein guter Mensch

Containerspektakel: Frank Castorfs Idiot an der Volksbühne

MMartin Wuttke kommt in die Neustadt gewatschelt: klein, chaplinesk, sich biegend, gummiartig krümmend, mit Schlabber-Schlagjeans, gelbem Humana-T-Shirt, lausigem Parka, schütterem Haar. Ein Irrer, ein Penner, ein Junkie? Nein, der Idiot. Fürst Myschkin, wie ihn Dostojewskj erschuf: naiv, gutgläubig, ohne jeden Funken Ironie oder Haß.

Das Bühnenbild des sechsstündigen Theatermarathons ist eine Offenbarung. Die gut 200 Zuschauer sitzen auf einem Baugerüstturm, der sich über zwei Flügel erstreckt, in einem Winkel von 90 Grad aufeinander zulaufend, auf drei Ebenen. Auf jeder sicht- und geräuschdurchlässigen Leichtmetallebene sind mehrere Monitore angebracht. Der Zuschauerturm steht im eigentlichen Bühnenraum und dreht sich während des Stückes um die eigene Achse. Im Rund sind Kulissen mehrstöckiger Wohnhäuser aufgebaut.

Das Porträt einer nur mit Slip bekleideten Bierflaschenträgerin spielt in den ersten Szenen die entscheidende Rolle. „Ein erstaunliches Gesicht!", sagt der Idiot, befragt, ob ihm eine solche Frau gefalle. Damit ist die Rolle des Idioten bereits umrissen. Er sieht nicht das Augenscheinliche, er sieht stets das Dahinter – und spricht es aus. Dafür wird er geliebt, gefürchtet und gehaßt. Jeder spiegelt sich in seiner Wahrnehmung und (beinahe) jeder versucht, den Idioten für sich zu instrumentalisieren.

Der Zuschauer wird allmählich mit den Möglichkeiten dieser Inszenierung vertraut gemacht; erst nach und nach verlagert sich das Geschehen in die Innenräume, und er gewöhnt sich daran, nur über Monitore und Leinwände zu sehen, was passiert. Per Handkamera sehen wir, wie eine aufreizende Sophie Rois mit voller Grauhaarperücke Lisaweta Prokofjewna, die Mutter dreier Töchter, mimt ­ ein weißer Engel mit Schmirgelpapierstimme. Sie nimmt den zittrigen, stockend um Worte ringenden Fürsten ins Verhör. Nach seinen ersten Eindrücken in der Schweiz, wo der Idiot die letzten Jahre verbracht hat, ausgehorcht, bröckelt Wuttke heraus: „Der Esel ist ein guter Mensch."

Zwei Szenen später betreten die „Neustädter" den eigentlichen Zuschauerraum. Hier führt eine riesige, breite Holztreppe zur bierzeltartigen Kneipe mit Klappbänken, zu Imbiß, Verkaufsladen und Friseurcontainer. Über allem Zimmern eine Großstadtsilhouette, eine Bingo-Aufschrift und die große Übertragungsleinwand. Schachtelartige Container im Hintergrund vermitteln den Eindruck einer Einkaufszeile nach Feierabend. Hier findet u.a. die Verführungsszene statt. Cordelia Wege als Aglaja Iwanowna Tochter der Lisaweta P. will den Fürsten für sich haben. Mit beinahe stoischer Mimik erzeugt sie eine Körpermusik, einen archaischen Wirbel. In ihrer kindlichen Egozentrik ist diese Figur die brutalste, unmittelbarste, gegen die der Idiot in seiner gewaltfreien Haltung machtlos bleibt. Einzig die Verweigerung hält Abstand. Der Idiot liebt die schöne Nastassja. Die liebt ihn ja auch ein bißchen, weil er reich ist, ehrlich und so naiv. Aber dann läuft sie doch wieder Myschkins Freund Rogoschin in die Arme.

Die Aufführung des Idioten ist ein brillantes, alle Register der Verstörung ziehendes Spektakel. Einzelne Bilder nehmen einem schier den Atem. Wenn z.B. der schwindsüchtige Ippolit, sensibel und altklug von Alexander Scheer gegeben, im Friseurcontainer seine Predigt hält. Da ist auf den Leinwänden Scheers Gesicht in voller Nähe zu sehen, die Worte schießen direkt, während der Schauspieler in den Spiegel blickt, auf die hinter ihm stehende, wunderbar verstörte Sophie Rois: gespannte Nasenflügel, leicht geöffneter Rotmund, volles Grauhaar – und Schweigen.

Anne Hahn

Weitere Vorstellungen am 25. und 26. Oktober, jeweils um 19 Uhr und dann wieder im Februar

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