Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Die Zeiten des Paralleluniversums sind vorbei

Der RAW e.V. könnte das Bleiberecht erhalten

Nach Monaten des Bangens kommen endlich Erfolgsmeldungen vom RAW-Tempel an der Revaler Straße: Der Vorstand des RAW e.V. steht kurz vor der Unterzeichnung eines zehnjährigen Mietvertrages mit der Vivico, der Geländeverwertungsgesellschaft der Bahn. Der Vertrag bezieht sich auf das Stoff- und Gerätelager und eröffnet in seiner Präambel die Option auf die restlichen drei Gebäude des Komplexes. Für das Künstlerkollektiv bedeutet das Bleiberecht eine Reihe von völlig neuen Perspektiven; zum Beispiel hat der Verein Förderung durch das EU-Programm Urban II beantragt. Wer den Antrag liest, kommt wahrscheinlich ins Staunen: Im Exposé wird das RAW der Zukunft als kulturgewerbliches Projekt und Gründerzentrum bezeichnet – neue selbstbewußte Töne.

Der Vereinsvorsitzende Mirko Assatzk rechnet sogar mit 50 Beschäftigungsstellen, die hier 2003 entstehen sollen. Das einst anarchistisch anmutende Projekt hat sich etabliert und institutionalisiert, es ist Bestandteil der Stadtplanung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg geworden. „Zwischen uns und dem Bezirksamt paßt kein Blatt Papier", beschreibt Assatzk die politische Lage.

Seit Anfang des Jahres sorgte das Projekt „Stadtentwicklung von Unten" für Wirbel im Boxhagener Kiez. Mit Unterstützung des Bezirks strengte der „Ideenaufruf", der ebenfalls zum RAW-Tempel gehört, Bürgerbefragungen, Informationsveranstaltungen und vor allem die Ausschreibung eines städtebaulichen Wettbewerbs an, den der holländische Architekt Kees Christiaanse gewann. Kern des allseitig gerühmten Konzeptes ist die Entwicklung des Geländes entlang des Bedarfs ­ mehr ein Regelwerk als ein konkreter Bebauungsvorschlag.

Die Arbeit von Vereinsvorstand und Ideenwerkstatt trägt erste Früchte, und doch bleibt der Verhandlungserfolg nicht ohne bitteren Beigeschmack: Zwar ist der Mietvertrag extrem günstig, aber er bindet die Mieter daran, die Gebäude des Komplexes zu renovieren. Selbst mit Zuschüssen der EU bedeutet das, daß das Projekt wirtschaftlich arbeiten muß. Der Tempel muß sich neu strukturieren und die Ziele deÞnieren. „Die Zeiten des Paralleluniversums sind vorbei", heißt es dazu in einer Presseerklärung.

Ortstermin RAW: Es ist kalt geworden in der Halle des Stoff- und Gerätelagers, zu kalt für Anfang Oktober, und so langsam wird der Wunsch nach Heizung und Innentoilette verständlich. Mirko Assatzk führt über das Gelände und stellt die unzähligen großen und kleinen Projekte vor. Er bedauert, daß einige der Pioniere wohl abwandern werden, erklärt aber gleichzeitig, daß man „die Arbeitsfähigkeit herstellen muß". Es gehe darum, die Gesetze des Marktes zur Maximierung des Gemeinwohls zu nutzen. Das Debakel der Kulturbrauerei wolle man auf keinen Fall wiederholen. Immer wieder macht er deutlich, daß es eben nicht anders geht ­ offensichtlich hat er diese Diskussion schon öfter geführt. Wäre der RAW e.V. eine Partei, müßte man den Vorstand wohl als Realo-Flügel bezeichnen.

Noch mehr aber redet Assatzk von dem Wohn- und Gewerbegebiet, das hier entstehen wird. Von der lockeren Atmosphäre, die hier herrschen soll – vielleicht so ein bißchen wie in der Oderberger Straße. Christiaanses „genialer Entwurf" biete endlich die Chance, daß den Bedürfnissen des so häufig erwähnten „gemeinen Friedrichshainers" (g.F.) Genüge getan werde.

Ein Anruf beim Stadtrat für Stadtentwicklung und Bau, Dr. Franz Schulz, wirkt ernüchternd. Er informiert, daß die Umsetzung des Siegerentwurfes nicht ganz so leicht vonstatten gehe, wie sich das der g.F. vorstelle. „Wir müssen einen konkreten Bebauungsplan erstellen, den können wir nicht durch ein Regelwerk ersetzen", informiert der Stadtrat. Also doch keine sukzessive Stadtentwicklung von unten? Zumindest der städtbauliche Vertrag soll sich an den Ideen des Holländers orientieren.

Auf den Korridoren der Vivico dagegen betrachtet man Stadtentwicklung eher von oben, zumindest die pappegewordenen Vorstellungen des ein zwei Quadratmeter großen Modells des Revaler Vierecks, das fleißige Bastler dort ausgestellt haben. Wie die Oderberger Straße sieht es nicht gerade aus. Da fällt zuerst ein zwanzig Zentimeter großer Koloß an der Warschauer Straße auf, neben dem die Hallen des RAW fast mickrig wirken. Die Wohnbebauung auf dem Gelände läßt sich am besten als viereckig beschreiben. Die Projektplaner schätzen das Potential des Boxhagener Kiezes als so beträchtlich ein, daß sie trotz des chronischen Investorenmangels Berlins durchaus Interessenten für ein weiteres Shoppingcenter erwarten.

Der Projektentwickler Axel Fricke sieht den RAW-Tempel als Teil des Marketingkonzeptes, die günstige Miete dementsprechend als Subvention. Gleichzeitig macht er aber auch klar, wer in Entwicklungsfragen den Ton angeben soll: „Wir diskutieren hier über Nutzung, nicht Nutzer." Die Räumungsklage, die parallel zu den Verhandlungen läuft, unterstreicht diese Position eindrucksvoll. Ob ein Räumungstitel auch durchgesetzt wird, ist eine andere Frage, aber das Projekt ist im wesentlichen vom guten Willen des Vermieters abhängig. Das RAW ist nicht gerettet, es hat nur eine neue Chance.

Jakob Kirchheimer

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