Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Kuriosum und kultureller Impuls

Wie weiter mit der Hellersdorfer Straße?

Das Projekt „Dostoprimetschatjelnosti" in Hellersdorf, das Anfang Oktober zu Ende ging, war ein Erfolg. Die Resonanz war groß, das Interesse der Journalisten hält immer noch an. Studenten der Kunsthochschule Weißensee hatten für einen Sommer das leerstehende Bezirksrathaus an der Hellersdorfer Straße in eine Baustelle verwandelt, in eine Künstlerkommune, in ein Kulturzentrum und in einen riesigen Ideenworkshop zu der Frage, die im Bezirk alle bewegt: Was tun mit der Platte?

Rund 50 Künstler, Musiker, Theaterleute, Architekten und Stadtplaner aus aller Welt haben mit dem Elfgeschosser so gut wie alles angestellt, was mit wenig Geld möglich ist: Sie haben ihn in Arbeits-, Wohn- und Gemeinschaftsetagen unterteilt, ein Ton- und ein Fotostudio, ein Kino und mehrere Bars eingerichtet und mit den Grundrissen herumgespielt, als ob es keine Bauaufsicht gäbe. Noch immer sind die Zurückgebliebenen damit beschäftigt, den Schutt aus dem Haus zu schleppen, den der Abriß dutzender Zwischenwände zurückgelassen hat.

Dennoch sind alle zufrieden. Das Bezirksamt und die Wohnungsbaugesellschaft Muewo, der das Hochhaus an der Hellersdorfer Straße gehört, freuen sich, daß der Bezirk einmal zu positiven Nachrichten Anlaß gegeben hat. Die Studenten haben eine schöne Zeit gehabt und sich und aller Welt bewiesen, daß ihre Kreativität zu etwas nütze ist. Ihr Projekt war nicht nur ein Kuriosum: Es hat der Diskussion um eine kulturelle Neubewertung der Platte einen kräftigen Impuls gegeben.

Und die Nachbarn? Einige hatten den Studenten Möbel und Kühlschränke gestiftet, manchmal kamen auch welche zu Besuch. Als die Studenten vor einer Veranstaltung 500 handschriftliche Einladungen in die Briefkästen steckten, kamen über 100 Nachbarn. Aber richtig mitgemacht haben nur zwei oder drei. Stattdessen nahmen viele das Projekt als Ruhestörung wahr und riefen regelmäßig die Polizei, wenn es lauter wurde. Nun haben sie wieder ihre Ruhe.

Denn ob es ab nächsten Sommer weitere Projekte dieser Art geben wird, ist leider fraglich. Der Atelierbeauftragte des Landes Berlin, Florian Schöttler, hält die Platte für künstlerische Aktivitäten ungeeignet: zu niedrig, zu kleinteilig und zu weit ab vom Schuß. Für das Haus in der Hellersdorfer Straße hat die Muewo einen Abrißantrag gestellt, kommt der nicht durch, ist mit einer Instandsetzung als Gewerbeimmobilie zu rechnen. Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, das den Künstlern mit einer ungewöhnlich entgegenkommenden Genehmigungspraxis den Rücken frei gehalten hatte, weiß auch nicht weiter. Baustadtrat Klaus Niemann würde zwar Nachfolgeprojekte befürworten, aber er hat zur Zeit andere Sorgen und vor allem: kein Geld.

Steffen Schuhmann, einer der Organisatoren von Dostoprimetschatjelnosti, findet das nicht schlimm. Man soll nicht an einem Haus hängen, sondern die Ideen weiterentwickeln, die dort entstanden sind. „Wenn irgendwann Leute in Polen anfangen, Kinos in ihre Platte zu bauen, dann haben wir viel erreicht." Schön für die Polen. Auch Hellersdorf hätte es verdient, daß dieses Projekt nicht das einzige bleibt.

Johannes Touché

Infos unter www.anschlaege.de

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