Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
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Strafe für Gastfreundschaft

Großes Gedränge herrschte am 15. Oktober vor dem Gerichtssaal 371 des Berliner Amtsgerichts. Dietrich Koch, Leiter der Beratungsstelle für politisch Verfolgte Xenion, war wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt" angeklagt. Er hatte am 24. November 2000 der Polizei den Zutritt zu den Räumen der Einrichtung verwehrt. Vergeblich: Das Einsatzkommando verschaffte sich auf der Suche nach dem kurdischen Flüchtling Davut Karayilan gewaltsam Einlaß. Er war auf dem Weg zum Therapiezentrum in eine Fahrkartenkontrolle geraten, dabei hatte die Polizei festgestellt, daß seine Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen war. Der junge Mann sprang in Panik aus einem Fenster des in der 3. Etage gelegenen Therapiezentrums und trug irreparable Schäden an der Wirbelsäule davon. Der Fall sorgte damals für eine große Medienöffentlichkeit, viele Einrichtungen der Flüchtlingshilfe protestierten gegen den Polizeieinsatz, durch den sie ihre Arbeit mit traumatisierten Menschen in Frage gestellt sahen.

Das öffentliche Interesse hatte für Karayilan positive Folgen: Seinem Asylantrag wurde nachträglich stattgegeben. Ein Fernsehteam überzeugte sich in der Türkei von der Echtheit der Dokumente, die schwere Folterungen bezeugten. Sie waren zuvor vom Gericht ungeprüft als Fälschungen zu den Akten gelegt worden.

In einem offenen Brief verteidigte der Leiter von Xenion sein Verhalten: Ihm sei es um „die Schutzverpflichtung unserer Verfassung gegenüber Folteropfern" gegangen. Zu einer weitergehenden Verteidigung kam es dann nicht mehr: Kaum hatte der Prozeß begonnen, wurde er auf unbestimmte Zeit vertagt. Rechtsanwalt Rüdiger Jung, der Koch vertritt, erläuterte die Hintergründe: Zunächst müsse die Rechtmäßigkeit der Polizeiaktion geprüft werden. Bisher sei nicht einmal geklärt, ob überhaupt ein Haftbefehl gegen Karayilan vorgelegen habe. Mit einer Einstellung des Prozesses ist zwar nicht zu rechnen, weil die Generalbundesanwaltschaft ein Interesse an dem Fortgang des Verfahrens bekundet hat. Aber Jung zeigt sich optimistisch, daß sein Mandant freigesprochen wird.

Zu einem Verfahren gegen die für den Einsatz verantwortlichen Polizisten wird es hingegen wohl nicht kommen. Der Fall kann sich also jederzeit wiederholen.

Peter Nowak

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