Ausgabe 09 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Hurra, hurra, die Krise ist da!

Welcher Euphemismus wurde uns nicht erspart, um das Kind nicht beim Namen zu nennen: „Konjunkturflaute", „Selbstkorrektur der Märkte", „vorübergehende Nebenfolge der Strukturanpassung", die „gefühlte Inflation" nicht zu vergessen. Nun ist es so weit: Wir stecken in der Krise, und es wird sogar zugegeben. Warum das plötzliche Bekenntnis? Einfach weil die ökonomische Kettenreaktion jetzt auch jenen Sektor erreicht hat, der für die Deutung des Weltgeschehens zuständig ist. Das Kulturgewerbe wird von der Krise heimgesucht. Wegen Anzeigenknappheit müssen große Zeitungen ihre Rubrikenzahl reduzieren, renommierte Buchhandlungen gehen pleite, auf der Buchmesse herrscht Untergangsstimmung, scharenweise melden sich Publizisten beim Arbeitsamt. Folglich ertönt ein mahnender Aufschrei aus der Feuilletonistenzunft: Die Kultur sei in Gefahr! Offensichtlich verknüpft sich damit eine bittere Enttäuschung. Medienmenschen und sogenannten Symbolanalytikern wurde weisgemacht, sie seien die Avantgarde der Wissensgesellschaft. Nun werden sie wie die übrige Wegwerfbelegschaft behandelt. Aber man darf, ohne der Schadenfreude zu verfallen, sich doch fragen, ob eine solche Entwicklung kulturell gesehen unbedingt schlecht ist.

Wird das eigene Haus überflutet, dann ändert sich die Position zur Klimakatastrophe, um eine unmittelbar konkrete Qualität zu gewinnen. Ebenso mag die Offenbarung der Krise einen Denkwandel veranlassen. Wird die eigene Stellung gefährdet, geht man anders an Neoliberalismus, Globalisierung, Turbokapitalismus ­ oder wie das Tier auch immer genannt wird ­ heran. Plötzlich geht es nicht mehr um abstrakte Kategorien oder um die Solidarität mit fernen Völkern. Neulich meinte gar Diedrich Diederichsen in der taz, der sozial-existentielle Wandel hätte sich bereits vollzogen. Als Beispiel erwähnte er den Erfolg von René Polleschs Stücken, in denen stets „Ich will so nicht leben" gebrüllt wird, sowie die Parole der attac-Bewegung: „Her mit dem schönen Leben!" Die eigene Unzufriedenheit und die eigene Sehnsucht sind in den Mittelpunkt der sozialen Kritik gerückt.

Mitunter sind auch etliche Propheten des „Motivationsgeschäfts" abgestürzt, kürzlich noch der erfolgreichste Zweig der Weiterbildungsbranche. Heilsformeln wie „Alles ist möglich, du mußt es nur wollen", die sie in teuren Seminaren verkauften, werden sie nun an sich selbst anwenden müssen! Zwangsoptimismus will keiner mehr hören. Laut Psychotherapeut Günter Scheich eine gute Sache, denn, meint er: „Positiv denken macht krank". Hegel läßt grüssen! Ohne negative Gedanken geht das Realitätsempfinden kaputt und werden „Identifikationskrisen" ausgelöst. Nicht nur im kulturellen Diskurs, auch in der Psychologie ist eine Rückkehr des Negativen fällig. So löst sich die Bewußtseinskrise in Krisenbewußtsein auf.

Erst wenn die Kruste der bequemen Kompromisse aufgebrochen wird, können geistige Schwefeldämpfe freigesetzt werden. Rückblickend auf die zwanziger und dreißiger Jahre des
letzen Jahrhunderts kann man allerdings bezweifeln, daß eine Wirtschaftskrise unbedingt schlecht für die Kultur sei. Es waren gerade die Sternstunden der rebellischen Kunst und der kritischen Theorie. Zu dieser Zeit ist beispielsweise Georges Batailles Antiökonomie entstanden, ein derbes Plädoyer für die Verschwendung und gegen das Mittelstandsideal: „Mit dem Erwerb eines mittelmäßigen oder niedrigen Vermögens haben sie die prahlende Verausgabung endgültig entwertet; diese wurde wie zerstückelt, es bleibt nur noch eine Menge eitler Anstrengungen übrig, versehen mit langweiligem Groll. Jedoch ist mit wenigen Ausnahmen ein solches Gehabe der Hauptgrund zu leben, zu arbeiten und zu leiden für all diejenigen geworden, denen der Mut fehlt, ihre schimmelige Gesellschaft der revolutionären Zerstörung zu verschreiben." Dieses Jahr errichtete der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn ein schlichtes, doch wirkungsvolles „Bataille Monument" am Rande der unverdaulichen documenta. Dabei hatte er in einer wackeligen Bataille-Bibliothek die ihm besonders wichtige Schrift Der Begriff der Verausgabung (1933 geschrieben) in mehreren Sprachen zur Verfügung gestellt. Ob die jetzt demontierte Installation ein Omen des aufkommenden Kulturwandels war, wissen wir noch nicht.

Guillaume Paoli

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 09 - 2002