Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt ­ eine Position

Die Zeitschrift An Architektur – Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt erschien erstmals im Juli. Sie ging aus dem „Freien Fach" hervor, einem Zusammenschluß von Studenten der Architektur an der HdK, der seit 1995 aktiv ist und sich mit den Wechselwirkungen beschäftigt, die zwischen architektonischen und politischen Debatten bestehen. So nahm das Freie Fach mit zahlreichen öffentlichen Aktionen zur Debatte um die DDR-Moderne oder die Privatisierung des öffentlichen Raums Stellung. An Architektur kann in Buchhandlungen oder per E-Post bestellt werden. Ein Heft kostet 2,50 Euro. Die nächste Ausgabe ist für Dezember geplant. Kontakt: www.anarchitektur.com

Bei der Lektüre eures ersten Heftes, „Material zu:", das sich mit dem Philosophen Henri Lefèbvre beschäftigt, fielen mir einige drastische Sätze auf: Vom „Gebrauchswert" und vom„Tauschwert" des gebauten Raumes war da die Rede, nicht aber von kulturellen oder ästhetischen Kategorien. War es eine programmatische Entscheidung, in der ersten Ausgabe einen Marxisten vorzustellen? Seid ihr Marxisten?

Die Reihe „Material zu:" soll sich mit verschiedenen theoretischen Positionen beschäftigen. Wir fanden es interessant, wie die marxistische Theorie sich auf räumliche Probleme übertragen läßt, wie Lefèbvre Raum als etwas beschreibt, das mit Kategorien wie Arbeit oder Kapital verwandt ist. Wir sind auf Lefèbvre gestoßen, weil sich kritische Stadttheoretiker wie Harvey, Soja oder Castells auf ihn beziehen, oder auch die Situationisten. Die einzige deutsche Übersetzung seiner architekturtheoretischen Überlegungen war ein Text in Arch+ von 1974, den wir dann zum Ausgangspunkt für unsere Untersuchungen genommen haben.

Lefèbvre ist eine Schlüsselfigur. Er hat in den sechziger Jahren als erster erkannt, wie die Ökonomie den städtischen Raum bestimmt, aber auch, daß von dem städtischen Raum her betrachtet völlig neue gesellschaftliche Ausgangspunkte denkbar sind. Natürlich ist Lefèbvre Marxist. Der Text, den wir veröffentlicht haben, macht aber deutlich, wie er den engen ökonomistischen Blick ausweitet und kulturelle und soziale Sphären mit hineinnimmt. Er hat den Raum analysierbar gemacht. Die Kritik, daß das klassische marxistische Vokabular für so etwas nur bedingt taugt, ist völlig richtig, aber das sieht Lefèbvre genauso.

Die anderen Hefte, die ihr bisher veröffentlicht habt, behandeln konkrete räumliche Phänomene: In zweiten Heft stellt ihr „Sitex" vor, ein Produkt, das speziell für das Verrammeln leerstehender Gebäude entwickelt wurde, im dritten wird das Flüchtlingslager in Sangatte am Eurotunnel analysiert. Nach welchen Kriterien sucht ihr eure Themen aus?

Das Thema Sangatte hat einfach gedrängt. Anders als in der Tagespresse und im Fernsehen, versuchten wir anhand der dortigen räumlichen Strukturen die Funktionsweisen und Auswirkungen europäischer Grenzgeografie sichtbar zu machen. Beim Thema Sitex geht es um ein einzelnes architektonisches Element, das beispielhaft für eine bestimmte Stadtentwicklung steht; dazu kommt dann das Theorieheft über Lefèbvre. Mit den ersten drei Heften wollten wir das Spektrum an Arbeitsfeldern aufzeigen. Nicht nur, was das Thema angeht, sondern auch, was die Vielfalt der Herangehensweisen betrifft. Darum haben wir die drei Ausgaben auch zusammen veröffentlicht. Es müssen aber nicht immer drei Hefte mit einem Theoretiker sein, es können auch mal zehn werden oder eine Einzelausgabe.

Wer sind eure Leser? Habt ihr Kontakt zu einem größeren Kreis von Menschen, die sich für diese Themen interessieren?

Soweit wir wissen, sind unsere Leser größtenteils Architekten und Stadtplaner, oder sie kommen aus dem Künstlerumfeld. Wir sehen uns nicht als Teil einer größeren Strömung, aber wir haben Kontakt zu anderen verstreuten Initiativen. Es gibt bisher wenig Bereitschaft zu einem breiten Diskurs, der architektonische und gesellschaftspolitische Denkweisen vereint. Wir versuchen im Grenzbereich eine Stelle zu finden, wo beide Denkweisen zusammengebracht werden können; daraus kann sich dann ein Debatte entwickeln, vielleicht auch eine Art Netzwerk.

Woran liegt es eurer Meinung nach, daß sich diese Denkweisen so wenig berühren? Es war ja nicht immer so, daß Architektur eine rein ästhetische Disziplin war, die sich für eine bewußte Gesellschaftspolitik nicht interessierte.

In der Berufspraxis hat man in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation wenig Chancen, auf politische oder soziale Fragen Bezug zu nehmen. Da haben Architekten kaum Spielraum gegenüber den Bauherreninteressen. Und an den Unis ist es irgendwann in den Achtzigern aus der Mode gekommen, kritische Fragen zu stellen. Wer das macht, wird gleich in die Nähe von irgendwelchen behutsamen Stadterneuerern gestellt, oder gilt als Radikaler. In Hochschulseminaren findet eine Auseinandersetzung meist nur auf einer akademisch-ästhetischen Ebene statt; Dinge wie die Privatisierung des öffentlichen Raums werden als bemerkenswerte Phänomene wahrgenommen, aber die Hintergründe interessieren kaum.

Es gibt immer wieder Initiativen, die echte Debatten anregen, das hat zumindest in Berlin eine gewisse Kontinuität. Allerdings eher bei Stadtplanern, Soziologen oder Künstlern; seltener bei den Architekten. Da ist das Freie Fach bislang eine Ausnahme.

Interview: Johannes Touché

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