Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kann man denn den Dichtern trauen?

Kunst&Politik (VIII): Eine Podiumsdiskussion zur politischen Relevanz von Literatur heute

In Zusammenarbeit mit dem internationalen literaturfestival berlin und dem Kulturhaus Mitte veranstaltete der scheinschlag am 12. September eine Podiumsdiskussion zur Frage: „Gibt es heute noch eine politisch relevante Literatur?" Mit scheinschlag-Redakteur Florian Neuner diskutierten der Berliner Schriftsteller und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift perspektive Ralf B. Korte, sowie als Teilnehmer des Festivals die Lyrikerin, Aktivistin und bekennende Buddhistin Anne Waldman, der New Yorker Essayist und Übersetzer Eliot Weinberger und der australische Lyriker und Herausgeber der Internet-Lyrikzeitschrift Jacket John Tranter. Wir dokumentieren das Podiumsgespräch in Auszügen. Gedolmetscht hat Ina Pfitzner.

Anne Waldman: Die feministische Kritik der Sprache stellt die Frage, wer überhaupt spricht. Wen repräsentiert Sprache, wessen Interessen? Wie versucht die Sprache, uns zu manipulieren?

Wir wissen, daß die Privilegierten und Mächtigen ein besonderes Interesse daran haben, die Welt durch Sprache zu formen, sie so zuzurichten, wie sie sie brauchen, eine Welt zu konstruieren, in der sie die Spielregeln bestimmen. Strukturen, Kategorien und Bedeutungen werden durch die dominanten weißen Männer geformt. Unser moderner Staat ist aus der Asche des Feudalstaats entstanden und wurde nach einem patriarchalischen Klassen-Modell geformt. Der Kapitalismus lebt von einem apolitischen Diskurs, in dem alternatives Denken marginalisiert wird und diejenigen ohne Stimme ausgebeutet werden. Jetzt spricht der kapitalistische Staat einen allgemeinen Bürger und Konsumenten an, der klassen- und geschlechtslos ist ­ ein moderner Bürger in einer Welt mit immer mehr Problemen. Um seine Version der Realität aufrechtzuerhalten, werden immer mehr Massenvernichtungswaffen gebaut, und überhaupt wird die Existenz unseres Planeten durch diese Gier nach Macht und Profit zerstört.

Ich glaube nicht, daß man Dichtung und das „Andere" wirklich trennen kann, denn die ganze Realität, die mich umgibt, muß ich schließlich irgendwie interpretieren und lesen. Ich muß das durch meine, wie soll ich sagen, poetische Antenne aufnehmen. Wir leben in einer Version der Realität, die verrückt ist, aber es ist eben nur eine Version.

John Tranter: Ich zögere ein bißchen, über das Thema Kultur und Politik zu sprechen. Ich komme aus Australien und dort ist Politik nicht so wichtig wie in Europa. Wir hatten dort noch nie einen Krieg, einen Bürgerkrieg oder eine Revolution. Egal, welche politische Entscheidung in Australien gefällt wird, sie wird nie die Bedeutung von der haben, die hier in dieser Stadt 1933 gefällt wurde.

Ich habe so meine Zweifel, daß Literatur wirklich einen sehr großen Einfluß auf die Politik haben kann. Wenn man nach Schriftstellern sucht, die einen direkten politischen Einfluß hatten, dann fällt einem wahrscheinlich Charles Dickens ein. Er hatte eine sehr schwere Kindheit, die er in seinen Büchern beschrieben hat. Das hatte zur Folge, daß die Gesetze geändert wurden und die Kinderarbeit in England abgeschafft wurde. Aber Stephen King z.B. ist eben kein Charles Dickens. Zur selben Zeit ist noch ein anderes Buch erschienen, das einen viel größeren Einfluß auf die Welt hatte als alles, was Dickens geschrieben hat: Das Kapital.

Ich bin hauptsächlich Dichter, und Shelley hat einmal gesagt, daß die Dichter die heimlichen Gesetzgeber der Welt sind. Aber Shelley war natürlich verrückt. Ich denke als Dichter natürlich schon, daß Literatur einen gewissen Einfluß hat. Aber wer weiß genau, ob es ein guter oder ein schlechter
Einfluß ist? Kann man denn Dichtern trauen? Die meisten Dichter folgen immer noch den Pfaden der Romantiker, und die meisten Romantiker sind Idealisten. Der britische Romancier Graham Greene hat gesagt, daß Idealisten viel mehr Unheil anrichten können als andere Leute, weil sie aufs Ganze gehen für ihre Ideale. Und Al Qaida, das sind auch alles Idealisten. Das ist der Grund, weshalb sie das tun, was sie tun. Ich habe ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu der Frage nach Literatur und Politik. Ich weiß keine Antwort.

Eliot Weinberger: Es wird oft gesagt, daß Poesie ihrem Wesen nach oppositionell sei, weil sie etwas ausdrückt, was noch nie zuvor ausgedrückt wurde. Das würde dem entgegenstehen, was ein starker Staat will. Eine Frage, die bei solchen Diskussionen nie gestellt wird, ist die, was passiert, wenn man den offiziellen Staat unterstützt. Ist es in der Moderne möglich, Lyrik zu schreiben, die den Staat unterstützt? Ein Beispiel, das einem natürlich einfällt, sind kommunistische Autoren. So stellt sich die Frage, kann man als kommunistischer Autor, der seinen Staat unterstützt, wirklich große Lyrik schreiben? Die Beispiele, die man findet, zeigen, daß diese Lyriker ziemlich schreckliche Gedichte zur Unterstützung des Staates geschrieben haben, ich denke z.B. an Nerudas Hymnen an Stalin.

Ich denke, es gibt zwei Strategien. Die eine wurde von dem peruanischen Schriftsteller César Vallejo verfolgt. Er hat Texte zur Unterstützung der Revolution und des Kommunismus geschrieben, die auch jeder andere geschrieben haben könnte. Seine Lyrik hat er davon strikt getrennt. Er hat genau die Lyrik geschrieben, die er auch schreiben wollte. Die andere Strategie ist die von George Oppen aus New York, der 1932 entschied, daß ein Dichter genauso wie jeder andere für die Revolution arbeiten müsse. Deshalb hat er 25 Jahre lang nichts mehr geschrieben und ist stattdessen in die Fabriken gegangen, um die Revolution zu organisieren.

Meine Frage, auf die ich keine Antwort habe, ist, ob man gute Poesie schreiben kann, die den Staat unterstützt oder ob Poesie ihrem Wesen nach oppositionell ist. Lyrik feiert ja sehr oft die Liebe, die Natur etc., kann sie also nicht einen aufgeklärten, modernen Staat lobpreisen?

Eine politische Literatur wird es solange geben, solange Menschen leiden, und Menschen werden immer leiden.

Florian Neuner: Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine den Staat unterstützende und gleichzeitig ästhetisch relevante Literatur gibt, denn die wäre ja zwangsläufig affirmativ. Ich stelle mir vielmehr die Frage, ob es Strategien ästhetischer Subversion gibt, die gegen den Staat wirksam werden könnten.

Ich möchte kulturell und von den Kontexten her stark differenzieren. Es gibt eine Literatur, die sich hauptsächlich über Inhalte definiert und die eine sehr große Relevanz in Ländern haben kann, in denen es z.B. keine funktionierende Presse gibt, in Diktaturen. Biedere, ganz konventionell gestrickte Romanformen können in solchen Kontexten durchaus politisch relevant sein. Man muß dazu gar nicht in ferne Weltgegenden gehen. Es hat auch das Phänomen einer DDR-Literatur gegeben, einer Literatur, die ästhetisch relativ hausbacken war, aber Material für diejenigen geboten hat, die etwas zwischen den Zeilen gesucht und auch gefunden haben, und damit zu einer gewissen politischen Kommunikation beigetragen hat. Das ist aber hier und jetzt nicht mehr möglich, und es gibt gegenwärtig nur klägliche Beispiele einer Literatur, die so etwas versucht.

Ich denke, daß es heute darum geht, nach subversiven Formen zu suchen, nach einer Literatur, die durch ihre formale Durchbildung politisch Relevanz erlangt. Ein Beispiel wäre ein feministischer Ansatz, wie ihn ja Anne Waldman propagiert, also der Versuch von Literatur, männlich dominierte Sprachformen modellhaft aufzubrechen und eine Art von Sprache vorzuschlagen, als Modell zu etablieren, die es noch nicht gibt. Literatur zeigt aber, daß es das geben könnte. Das führt zu der schwierigen Frage der ästhetischen Autonomie. Einerseits ist ein autonomer Raum erforderlich, um solche Modelle überhaupt durchspielen zu können. Andererseits besteht natürlich die Gefahr einer gewissen Selbstgenügsamkeit, eines ästhetischen Schrebergartens, in dem irgendjemand seine Spiele treibt, die niemanden mehr interessieren. Das sieht man daran, welches Dasein die Experimente der Neoavantgarde und ihrer Nachfolger heute fristen, die am Markt keine Relevanz haben, in Nischen ihr Auskommen finden und die natürlich niemandem weh tun.

Ralf B. Korte: In einem Gesellschaftssystem, das alle Aspekte auch des kulturellen Arbeitens immer mit einer politischen Dimension definiert, kann es gar keine nicht-politische Literatur geben. Jede Form von Literatur hat auch eine politische Dimension. Jedenfalls hat auch eine unpolitische Literatur eine politische Rolle in unserer Gesellschaft, und Autoren stehen niemals außerhalb eines gesellschaftlichen Verbandes. Insofern kommt es unter Umständen wesentlich darauf an, daß man den Begriff der Selbstorganisation von Autoren oder der Organisation des literarischen Feldes, des Betriebes neu ins Kalkül zieht. Wenn man die Frage stellt, wie sich Autoren politisch verhalten können, ist das in erster Linie eine Frage nach ihrer politischen Selbstdefinition und -organisation.

Es gibt in Deutschland durchaus einige Autoren, die versuchen, eine politisch engagierte Literatur zu produzieren, dies aber tun als typische Mittelstandsunternehmer. Sie bieten einer bestimmten Leserschaft ein Produkt an, das dort nachgefragt wird. Man kann davon ausgehen, daß engagierte Literatur in Deutschland hauptsächlich von anderen Angehörigen des Mittelstands gelesen wird, die in derselben Lage stecken wie diese Autoren. Das Problem, dem sie sich gegenübergestellt sehen, ist: Sie arbeiten in irgendeinem Zusammenhang, für den sie letztlich keine Verantwortung übernehmen, was die politische Selbstorganisation dieser Form von Arbeit anbelangt, geben sich aber den Anstrich, politisch engagiert zu sein – wofür auch immer. Das Engagement der Literatur, in welche Richtung auch immer, ist nur das Ornament. Das ist einer der Aspekte, auf den wir mit dem Projekt perspektive zu reagieren versuchen.

Der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefällt sich in dem Satz, die Entpolitisierung von Literatur sei eine notwendige Entwicklung, das werde auch nie mehr wiederkommen. Er verbindet das mit der Anmerkung, daß es natürlich ein Politisches gebe. Dies sei sein Handwerk bzw. das des politischen Journalisten. Ich denke, das ist die Realität, von der wir ausgehen müssen, und als Autoren müssen wir doch darauf reagieren.

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