Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Auf dem Weg, ein Berliner zu werden

Aus amerikanischer Sicht erscheint die Stadt extrem weltoffen

Es ist mir noch nie so deutlich geworden, wie gut die deutschen Beziehungen zu den USA sind, wie gerade jetzt. Die große Debatte der letzen Wochen rund um den Irakkrieg, den Jahrestag zum 11. September und die „deutsch-amerikanische Freundschaft" haben mir bewiesen, daß ich mich am richtigen Ort befinde.

Ich bin nach Berlin gezogen, um von den Weltanschauungen wegzukommen, die die USA beherrschen, um in einer Stadt und einem Land zu leben, wo der komplexen Gegenwart kritisch und nachdenklich begegnet wird. In Berlin ist es ganz klar, daß man die Welt und ihre Bewohner nicht in „gut" und „böse" einteilen kann. Und es sind ebenfalls die Deutschen, die heute noch pazifistische Gedanken in die weltpolitische Debatte einbringen. Aus Berlin tönt eine starke und vernünftige Kritik an der Bush-Regierung und ihrer vereinfachten Perspektive, die von einer schrecklich gefährlichen Kombination aus Arroganz und Ignoranz geprägt ist.

Als US-Amerikaner kann ich nicht direkt an der deutschen Politik teilnehmen, aber ich kann von einer US-amerikanischen Wirklichkeit Zeugnis ablegen, die nicht die einzige ist, aber die gegenwärtige Debatte dominiert. Meine Erfahrung als US-amerikanischer Ausländer speist sich aus andauernder Beschäftigung und kreativer Auseinandersetzung mit den Deutschen. Das heutige Deutschland wird nicht von Anti-Amerikanismus bestimmt, sondern von einer kritischen Haltung zur geopolitischen Gegenwart, eine Haltung, die in Amerika fast nicht existiert und deshalb ausgesprochen erfrischend und inspirierend wirkt: Ich würde sie „Kritischen Amerikanismus" nennen.

Es ist eine Besonderheit der USA, daß die Prozesse der Geschichte und der Politik kaum bewußt erlebt werden. Die Kraft hinter der Weltmacht USA ist die Fähigkeit, eine kulturelle Landschaft zu prägen, die die weitreichenden Zusammenhänge alltäglicher Taten verschleiert. Berlin hingegen war der Ort, in der sich am deutlichsten die gesellschaftlichen und geschichtlichen Extreme des letzten Jahrhunderts manifestierten, und diese Stadt ist immer noch voller Spannungen. Hier erfahre ich eine lebendige Anwesenheit unserer historischen Dimension. Und hier kann ich mein Leben in einem dynamischen kulturellen, sozialen und politischen Milieu führen, in dem der Wert eines Menschen nicht als eine finanzielle oder gar militärische Ressource angesehen wird.

Ich habe viele Deutsche nicht nur als freundlich und klug erfahren, sondern auch ­ und das ist vielleicht wichtiger ­ als auf eine kritische und sensible Art neugierig, was die USA betrifft. In fast jedem Gespräch, das ich mit Deutschen habe, sind die USA ein wichtiges Thema: Außenpolitik, Innenpolitik, kulturelle Unterschiede, Reisen, Ausbildung, Geschichte ... Ich werde zu allem befragt. In Berlin bin ich gezwungen, mir meiner Herkunft und ihrem besonderen Gewicht bewußt zu werden. Ignorante US-Amerikaner könnten sich in Berlin unmöglich zu Hause fühlen.

Natürlich ist meine Perspektive zum Thema „Ausländer in Berlin" beeinflußt von der spezifischen Position, die US-Amerikaner in Deutschland einnehmen. Auf einer persönlichen Ebene werden sie weder bewundert noch von vornherein verurteilt. Die Tatsache, daß man US-Amerikaner ist, scheint alles offen zu lassen. Wie überall gibt es natürlich auch in Berlin negative Stereotypen über US-Amerikaner, aber sie treten selten zutage. Wohin die ausgetretenen Pfade des Nationalismus führen, ist den Deutschen wohlbekannt. Obwohl es auch hier Nationalismus gibt, scheint mir, daß er viel schwächer ausgeprägt ist als in anderen europäischen Ländern. Zumindest in der jüngeren Generation weiß man um die Unwichtigkeit der Nationalidentität einer Person. Im Kontext des 11. September, der in den USA zu einem sehr ausgeprägten Patriotismus geführt hat, ist diese fast post-nationale Stimmung in Berlin ein für mich sehr willkommener Gegensatz. Fast kein Beispiel enthüllt das Wesen der US-amerikanischen Kultur und Politik besser als die Tatsache, daß weniger als 20 Prozent der Einwohner Reisepässe haben. Der Kontrast zu der Reiselust der Deutschen ist frappierend.

Ich bin nicht stolz, US-Amerikaner zu sein. Ich kann nur dankbar sein, daß ich nicht in den Vereinigten Staaten eingepfercht bin. Nach Berlin zu kommen, heißt aus einem erschreckenden, weltunwissenden Nationalismus befreit zu werden. Ich freue mich, auf dem Weg zu sein, ein Berliner zu werden.

Jesse Shapins

Der Autor kommt aus den USA und lebt seit einem halben Jahr in Berlin.

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