Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Entdeckungen bei der Toilettenlektüre

Auf meinem Klopapier stehen so Sprüche, ehrlich! In der Ruhe liegt die Kraft./Die beste Motivation ist die Selbst-Motivation./Dein Wille kann Berge versetzen. Das treibt mich an. Zum Glück braucht man kein Glück, sondern nur die richtige Einstellung./Wer sich an Kleinigkeiten erfreuen kann, besitzt ein großes Herz!/Mache das, was möglich ist/das Unmögliche überlasse besser anderen. In die Tiefen der Metaphysik begibt sich gar die dritte Rolle: Lebe im Heute, denn unsere Zukunft ist morgen schon Vergangenheit./Enttäuschungen sind in der Regel das Produkt zu hoher Erwartungen./Versuche nichts mit Kraft/ denn Druck erzeugt nur Gegendruck.

Obwohl ich ein großes, sonnendurchflutetes Arbeitszimmer angemietet habe, mit abgezogenen Holzdielen, funktionierender Gasheizung und einem mitten im Raum aufgestellten Schreibtisch, halte ich mich mitunter Stunden in dem winzigen, weißgefliesten Toilettenkabuff nebenan auf und schmöker barpoig, ohne mich zu entleeren, in Schwarten und Scharteken. Kürzlich stieß ich dabei auf einen Romananfang, der meinen Darm vor Neid fast platzen ließ:

Mein Entschluß, mit einem Fahrrad unseren geliebten, alten Erdball zu umrunden, kam sehr plötzlich.

Vor rund 20 Jahren stand in der Nähe des Essener Hauptbahnhofs ein Münzautomat, dessen mechanische Armvorrichtung gegen entsprechenden Einwurf dem Benutzer mehrfach anerkennend auf die Schulter klopfte. Wäre ich der Verfasser dieses wundervollen Romanauftakts gewesen, hätte ich mich von dem Gerät grün und blau loben lassen.

Von dem Schulterklopfkasten schwärmte übrigens mein Stiefvater, der seit seiner Lehre im öffentlichen Dienst angestellt ist. Das ist ein staatlich subventionierter Raum, in dem die Angehörigen die meiste Zeit über so tun, als ob sie etwas Wichtiges leisteten. Im Grunde genommen hätte mein Stiefvater also auch Bildhauer werden können ­ oder Lyriker oder Videokünstler. Er aber entschied sich für den öffentlichen Dienst, erhielt eine Art lebenslängliches Arbeitsstipendium mit Residenzpflicht, ist seither regelmäßig in einem Büroturm anzutreffen und bekommt dafür eine anständige Aufwandsentschädigung. Ein nicht geringer Teil davon wanderte in den Schulterklopfautomaten am Hauptbahnhof ... das hält die Wirtschaft am Kacken!

Es gibt viele Arten, seine Zeit abzuleben. Man kann sich über Tanzflächen schlängeln, die Achselhaare entfernen, in Muckibuden ordentlich abpumpen oder sich in Toiletten verbarrikadieren und lesen. Ich bevorzuge letzteres ­ also weiter:

Ich stand wieder einmal auf dem Arbeitsamt. „Nee", sagten die, „wir haben leider noch immer nichts für Sie! Kommen Sie doch Anfang der Woche noch einmal wieder!"

„Hören Sie mal", meinte ich, „geht es, daß ich mich bei Ihnen abmelde?"

„Für wie lange?" fragte der Beamte.

„Mal sehen", sagte ich. „Ich kann das so genau noch nicht sagen. Arbeit haben Sie ja doch keine für mich. Ich möchte die Gelegenheit ausnutzen und ein bißchen verreisen. Mir die Welt ansehen ­ verstehen Sie?"

Nein, natürlich nicht! Das war schon damals, in den fünfziger Jahren, als diese Zeilen niedergeschrieben wurden, so ­ und das hat sich bis heute nicht geändert! Trotzdem schwang der Autor sich auf seinen Drahtesel und radelte los. Von Düsseldorf bis Burma.

Als ich meine Reise startete, war ich ein armer Teufel, ein arbeitsloser Journalist, der sich mehr oder weniger aus Verzweiflung in das große Abenteuer stürzte. Je mehr ich auf meinem Stahlroß in die Ferne drang und je mehr andere Völker und Rassen ich erlebte, desto mehr wurde mein Abenteuer zu einer Sendung und zum Lebenszweck. Ich kenne fortan nur noch eine Aufgabe: Der Welt die Welt zu zeigen, wie sie wirklich ist.

Also raus, liebe Leute! Rein in die Welt!

Marc Degens

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