Ausgabe 08 - 2002 berliner stadtzeitung
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Alleskönner

Es gibt Berufsgruppen mit einem ernsthaften Imageproblem. Sozialamtsangestellte gehören dazu oder BVG-Kontrolleure: Fast jeder denkt an etwas Negatives, wenn die Rede auf diese Berufe kommt. Bei den Akademikern sind es wohl die Betriebswirtschaftler, die die Frage nach ihrer beruflichen Tätigkeit am meisten fürchten müssen, gefolgt vielleicht von den Politologen, denen man unterstellt, sie seien für Politik verantwortlich.

Den Architekten geht es ähnlich: Auch bei ihnen behauptet man zu unrecht, sie hätten mit Architektur zu tun. Tatsächlich sind sie, wie der Großteil der kreativen Elite dieses Landes, vor allem mit dem Überleben beschäftigt. Die „Architektendichte", also das Verhältnis von Architekten zur Restbevölkerung, ist in Deutschland mit 1:800 weit höher als in allen anderen Ländern der Welt. Besonders schlimm ist es in Berlin, dem bevorzugten Reiseziel vieler Architekten, die als Touristen die Avantgardearchitektur des 20. Jahrhunderts besichtigen wollen. Tausende ihrer einheimischen Kollegen irren hier auf der Suche nach Arbeit und Lohn auf den Straßen herum.

„Architekten müssen alles können", heißt es an der Uni. Dieser weise Spruch bedeutet, daß sich Architekten, wenn sie beispielsweise eine Schule entwerfen, mit Heiztechnik ebenso auskennen müssen wie mit Pädagogik. Den Absolventen von heute dient die alte Weisheit zur Bestätigung eines postmodernen Berufsverständnisses: „Ich kann, was ich mache", heißt es nun, und das ist: alles. Obwohl den meisten Architekten zur Beurteilung von Farben und Formen nur Kriterien wie „sechzigerjahremäßig" (gut!) und „achtzigerjahremäßig" (ziemlich schlecht!) zur Verfügung stehen, mischen sie engagiert im Galeriengeschäft mit, wo sie ernsthaften Künstlern Konkurrenz machen. Sie verdingen sich an jedes Unternehmen, das ein „Art" im Namen führt, bringen ihre Kenntnisse in die Gestaltung von Websites, Broschüren und Messemöbeln ein, generieren für banausenhafte Immobilienhaie kitschig bunte Perspektiven, die man ihnen an der Uni um die Ohren gehauen hätte. Es soll sogar Architekten geben, die sich am Journalismus versuchen. Die wenigen, die tatsächlich im Kernbereich ihrer Profession ihr Auskommen finden, quälen sich in der Regel mit Altbausanierungen herum, mit mühseligen Kleinarbeiten, die kaum mehr künstlerische Entfaltung zulassen als eine Fahrradreparatur. Wer schließlich tatsächlich an einem echten Neubau mitwirken darf, läßt keine Gelegenheit aus, seine Unschuld zu beteuern: Es ist der Bauherr (der blöde BWLer), der die schönheitsliebenden Architekten zur schnöden Gewinnmaximierung mißbraucht.

Tatsächlich ist es nicht der Mangel an Schönheitsliebe, der die Architektur heute ihren guten Ruf zu kosten droht. Was diesem Berufsstand fehlt, ist vielmehr der Bezug zur Gesellschaft, die bekanntlich weder aus Geld noch aus Ideen, sondern aus Menschen besteht. Menschenliebe ­ eine altmodische, als kitschig verschrieene Haltung, die bei Architekten bestenfalls als irgendwie „siebzigerjahremäßig" durchgeht. Die Beschäftigung mit dem, was die laienhaften Benutzer an Architektur interessiert, was ihnen verständlich und nützlich erscheint, gilt als alberne Menschelei und ist so out wie das Sozialamt und die BVG.

Aber ein menschenliebendes und gesellschaftlich engagiertes Berufsethos war nicht immer das Privileg langhaariger Gutmenschen. Auch die grossen Architekten der Zwanziger hatten alles andere im Sinn als die Manierismen, mit denen uns heute die postmoderne Avantgarde langweilt. Die bahnbrechenden architektonischen Ideen der klassischen Moderne entstammten alle dem Bedürfnis nach gesellschaftspolitischem Fortschritt. Wenn ein solches Bedürfnis wieder spürbar wird, wären die Architekten zumindest bei ihrem Image wieder in der Offensive.
Hänsel Mann

Ein Überblick, eine Position, ein Beispiel und zwei Berichte auf den Special-Seiten.

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