Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
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Es stehen noch viele Sätze aus

László Krasznahorkais merkwürdiges, obsessives Buch Krieg und Krieg

1999, als die Ungarn buchmessenbedingt Konjunktur hatten, erschien in deutscher Übersetzung László Krasznahorkais Roman Krieg und Krieg. Den Helden des Buches plagt die Angst, seinen Kopf zu verlieren – im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses orthopädische Problem ist aber nun beileibe nicht das einzige, das György Korim plagt. An seinem 44. Geburtstag und „urplötzlich" kommt dem Archivar aus der ungarischen Provinz die Erkenntnis, „er habe von nichts eine Ahnung", die Welt sei nicht zu begreifen. Er wird als ein Flüchtender vorgeführt, und er bleibt den ganzen Roman über auf der Flucht. In der Eingangsszene wird er an der Peripherie Budapests von einer Kinderbande überfallen. Die Kinder wissen gar nicht, wie ihnen geschieht, als sich eine Kaskade von Monologen über sie ergießt. Später muß sich dann die puertoricanische Freundin eines windigen Dolmetschers und Kriminellen in New York seine Suada anhören; daß sie kein Wort Ungarisch versteht, ficht ihn nicht an. Daß Korim nicht alle Tassen im Schrank hat, merkt jeder; daß er im Grunde harmlos und bemitleidenswert ist, aber auch.

Nachdem er sein ganzes Hab und Gut in Ungarn veräußert hat, schlägt sich Korim nach New York durch, weil er dort das Zentrum der Welt vermutet. In seinem Gepäck führt er ein anonymes Manuskript, das ihm in seinem Archiv in die Hände gefallen ist und das ihm gleichermaßen Rätsel aufgibt und fasziniert. New York scheint ihm der geeignete Ort, diesen ominösen Text abzutippen und ins Internet zu stellen und somit für die Ewigkeit zu retten, um dann zu sterben.

Korim ist ein Sinnsucher. Allein, es will sich kein Sinn einstellen ­ auf der wortreich und gerne im Konjunktiv reportierten Irrfahrt des Protagonisten genauso wenig wie auf den vielen Seiten seines rätselhaften Manuskripts, für das er schließlich den Titel „War and War" wählt. Mal halten sich die vier Helden des Manuskripts auf Kreta auf, mal wohnen sie dem Dombau zu Köln bei, mal reisen sie nach Venedig, wo gerade ein neuer Doge gewählt worden ist: Alles ist mit Bedeutung aufgeladen, kolossale Anläufe, aber keine Lösung. „Stände nur noch ein einziger Satz aus, dann könnte er in meinem Fall nur so lauten, bestes Fräulein, daß alles keinen Sinn hatte, überhaupt keinen Sinn", wendet Korim sich einmal an die stumme Gefährtin seines Quartiergebers in New York, „aber es stehen ja noch viele Sätze aus".

In seinem manischen Monologisieren, das dem Leser als Konjunktivorgie dargebracht wird, erinnert Krasznahorkais Held an Thomas Bernhardsche Gestalten. Doch sein Korim ist viel zerrissener, neben ihm wirken die nicht minder suizidgefährdeten „Geistesmenschen" des Österreichers geradezu bieder. Die Literaturkritik hat erwartungsgemäß noch Kafka und Beckett assoziert.

Sein Ende, kaum jedoch seinen Frieden, findet György Korim in Schaffhausen. Das in den dortigen Hallen für neue Kunst ausgestellte gläserne Iglu von Mario Merz zu sehen, sich darin aufzuhalten, ist die letzte Obsession dieses Getriebenen, nachdem er es auf einem Photo in New York erblickt hatte.

Ein merkwürdiges, sperriges, obsessives Stück Literatur ist dieser Roman. Daß sein Autor mit dem Filmemacher Béla Tarr zusammenarbeitet, kann nicht verwundern. Etwas bedenklich stimmt freilich die in einem Interview mit dem Wiener Standard von Krasznahorkai geäußerte Kunstauffassung. Für ihn ist die Kunst „eine ewige Form der Antwortsuche nach den letzten Fragen". Einen klaren Kopf vermag Krasznahorkais Leser bei dieser Suche jedenfalls kaum zu behalten. Erhellend ist diese Literatur nicht. Ich würde aber auch nicht gleich so weit gehen, hier Verdunklungsgefahr zu wittern. Dafür ist mir dieser ungarische Irrsinn zu sympathisch.

Peter Stirner

László Krasznahorkai: Krieg und Krieg. Ammann Verlag, Zürich 1999. 21,90 Euro

László Krasznahorkai liest am 16.September um 20 Uhr im Pavillon des Berliner Ensembles aus „Krieg und Krieg".

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