Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kulturgut Kneipe

Mit dem „Oderkahn" soll die letzte Kneipe aus derOderberger Straße verschwinden

Daß alteingesessene Läden schließen; daß die Bevölkerung durch Luxussanierungen vertrieben wird, man weiß und kennt das, und der scheinschlag wird auch im zwölften Jahr seines Erscheinens nicht müde, dagegen zu protestieren. Spätestens jetzt aber geht es wirklich ans Eingemachte: Dem vom Gentrifizierungsdruck besonders arg geplagten Gebiet um die Kastanienallee droht der Verlust seiner letzten Kneipe. Seit 1880 und also seit Errichtung des Hauses in der Oderberger Straße 11 befindet sich im Erdgeschoß eine Kneipe; seit 1921 wird sie von derselben Familie als Gaststätte „Zum Oderkahn" geführt. Sie droht nun einem Spekulanten und selbsternannten Erneuerer der Oderberger Straße zum Opfer zu fallen.

Über ausbleibende Gäste kann sich die letzte Kneipe im Kiez ­ es gibt ja sonst nur Cafés, indische Restaurants, Imbisse und Cocktailbars ­ nicht beklagen. Wenn es nach der Wirtin Monika Lange ginge, würde ihr Sohn die Kneipe in der Oderberger Straße in einigen Jahren übernehmen und die Familientradition weiterführen. Doch Fawad Ghousi, der gegenüber ein indisches Lokal betreibt, hat das Haus gekauft und der Oderkahn-Betreiberin zum Jahresende gekündigt. Das freilich konnte dem aus Afghanistan stammenden Gastronom gar nicht schnell genug gehen. Er schrieb die Kündigung, noch ehe er das Haus erworben hatte ­ ein Formfehler, der Monika Lange nun möglicherweise ein Jahr Aufschub gewährt. Die damit gewonnene Zeit könnte zur Rettung der mit nautischen Requisiten, Fischernetzen, Schiffsmodellen und Plastikfischen dekorierten Kneipe beitragen.

Monika Lange hat es schon jetzt gut verstanden, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Sie hat, wie sie meint, nichts zu verlieren, und will alles für den Erhalt der Kneipe, in der sie ihr Leben verbracht hat, tun. Lange hat bereits an die 800 Unterschriften gesammelt, es sind Artikel im Nordberliner, in der Morgenpost und in der tageszeitung erschienen, einen Termin bei Senator Gysi hatte sie bereits. Nun will sie bei seinem Nachfolger vorstellig werden. Die Wirtin hat auch Unterlagen zur Geschichte ihrer Kneipe beim Denkmalamt eingereicht und hofft, der Oderkahn könnte als Kulturstätte anerkannt werden. Die traditionsreiche Kneipe kann auf Stammgäste wie Stefan Heym oder Freya Klier verweisen.

Der neue Hauseigentümer, der jeden Dialog mit der Oderkahn-Wirtin verweigert, spürt den starken Gegenwind. Es gebe jetzt schon genug Multikulti in dieser Gegend, meint ein Gast, und würde den Afghanen am liebsten „nach Hause" schicken.

Kein Zweifel, der Oderkahn ist ein Kulturgut. Hier ist noch erlebbar, was Kneipenkultur jenseits von Milchkaffee und Szenekultur einmal war. Für mich ist er eine der letzten Zufluchtsstätten im Kiez. Hier kann ich ungestört arbeiten und Bier trinken und bekomme auch noch nach Mitternacht eine Boulette. Nur die „Antenne Brandenburg" nervt manchmal.

Peter Stirner

Die Gaststätte „Zum Oderkahn" in der Oderberger Straße 11, Prenzlauer Berg, hat täglich von 16 bis 1 Uhr geöffnet. Schließtag ist im Winter sonnabends. Im Oderkahn liegen Unterschriftenlisten für den Erhalt der Kneipe aus.

Kneipenbilder finden Sie hier ... (Dateigröße ca. 130 k, also Geduld)

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