Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Gesucht: Der Mann mit den 100 Taschen

Julius Markschiess van Trix erforscht Berliner Artistengeschichte

Kabarettbühnen, Variétés und Zirkusmanegen gab es im amüsierwütigen Berlin vor 1933 reichlich. Die Namen von Akrobaten, Gummimenschen und Jongleuren kannte jedes Kind, skandalöse Tanznummern waren die Sensation einer Saison, und die volkstümlichen Couplets von Otto Reuter oder Claire Waldoff sang binnen kurzer Zeit die ganze Stadt. Fast alle, die damals Stars waren, sind inzwischen nur noch exotische Namen in alten Programmen. Zwei Männern ist zu verdanken, daß man sich von einigen bis heute ein Bild machen kann: Dem Verwandlungskünstler Max Grünthal alias „Mac Walten, der Mann mit dem geheimnisvollen Rock", der 1920 von der Bühne abtrat, in der Friedrichstraße ein Fotostudio eröffnete und viele Artistenkollegen in Originalposen ablichtete. Und Julius „Johnny" Markschiess, dessen lebenslange Leidenschaft die Geschichte der Artistik in allen Spielarten ist. Sein Beiname „van Trix" erinnert daran, daß der 82jährige einmal selbst in der Zirkuskuppel am Trapez hing, bis ein schwerer Sturz die Karriere früh beendete. Danach kümmerte sich der am Alexanderplatz aufgewachsene Berliner jahrzehntelang um die Belange von Veteranen und Nachwuchsartisten, trug die Sammlung „dokumenta artistica" zusammen und organisierte Ausstellungen. Inzwischen besitzt van Trix auch Fotos aus dem Studio Grünthal. Das Unternehmen erregte seine Aufmerksamkeit, als er sämtliche Bewohner, Gewerbe und Einrichtungen zu ermitteln versuchte, die 1930 bzw. 1940 in den 260 Häusern der Friedrichstraße ansässig waren. Eine Sisyphosarbeit – vor allem, wenn man wie Markschiess van Trix gerne gründlich gräbt. „Sammeln, das ist das eine. Aber die Geschichte dahinter, die interessiert mich weit mehr", sagt er über seine Exponate. Die Lebensgeschichte von Max Grünthal konnte er bisher allerdings nicht zu Ende verfolgen: Der gebürtige Breslauer war Jude und flüchtete nach Holland, wo sich seine Spur 1936 verliert. Zirkushistoriker brauchen besonders viel Glück bei ihrer Rekonstruktionsarbeit, denn Plakate und Requisiten waren meist Saisonware, wurden auf Reisen verschlissen, schnell weggeworfen oder verbrannten schließlich im Krieg. Ein richtiger Haupttreffer für van Trix ist deshalb ein riesiger Koffer voller Poster, Programme und Papiere, den er neulich auf dem Dachboden von Artur Oser entdeckte, dem Impresario von Hellseher Hanussen und Jongleur Rastelli.

Sein Engagement stieß nicht nur zu DDR-Zeiten, sondern auch nach der Wende auf bürokratischen Widerstand und Intrigen, die ihn schließlich krank machten. Was treibt den 82jährigen, weiterhin mit seinem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen, Plaketten zu stiften und Gedenktafeln anzuregen? „Die Faszination der Artistenwelt", antwortet Markschiess auf solche Fragen. Aber da ist noch etwas. Er zeigt ein Foto, will wieder einmal wissen, ob man die Abgebildeten kennt. Der elegante Herr mit graumelierten Schläfen ist eindeutig Charlie Chaplin, zu Besuch in Berlin. Und der blonde Junge daneben, in kurzen Hosen und Strickpulli, ist sein großer Fan, der elfjährige Johnny Markschiess! Seine erste Begegnung mit einem Star wurde gleich im Bild festgehalten. Solche Dokumente sind ihm wichtig. Wenn er erzählt, wie er viel später die ehemaligen „Comedian Harmonists" Harry Frommermann und Ari Leschnikoff aufstöberte, von Curt Bois berichtet, der einer der engsten Vertrauten von Marlene Dietrich war („Mensch Curt, sag' ich, das mußt Du aufschreiben!") oder ein Bild zeigt, auf dem er mit Max-Reinhardt-Komponist Mischa „Spoli" Spoliansky zu sehen ist ­ dann merkt man ihm an, wie stolz er ist, immer dabeigewesen zu sein und all diese Leute gekannt zu haben. Nach acht Lebensjahrzehnten in Berlin-Mitte ist der Chronist längst selbst Bestandteil der Geschichte geworden, die er erforscht. Wenn er Zirkus- oder Stadtgeschichte vor dem Vergessen rettet, bewahrt er damit auch etwas von sich. Doch van Trix verliert Veränderungen in der Gegenwart nicht aus den Augen: „Man muß ja wissen, wo die Straßenbahn jetzt durch den eigenen Kiez fährt. Sonst kann man sich gleich bei Grieneisen anmelden!"

Einen charmanten Artistenhabitus hat Julius Markschiess bis heute. Auf seinem Sofa unter dem Ölbild sitzend, das natürlich eine Zirkusszene zeigt, schreibt er eine Widmung in das „Programm" seines Lebens, bevor er die kleine bunte Festschrift zum 80. Geburtstag dem Besucher überreicht.

Annette Zerpner

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 07 - 2002