Ausgabe 07 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Impressum


Zur Homepage

Paul Nizon

Das Fell der Forelle (Auszug)

Ich hatte mein Gepäck in der Tantenwohnung abgestellt, Koffer und Taschen. Sie schienen sich aneinander zu drängen wie Flüchtlinge, eingeschüchterte. Die Wohnung in ihrer beredten Intimität und mein Gepäck wie die versammelte Haltlosigkeit inmitten er pathetischen Anordnung der Möbel und Dinge, die alle von der verstorbenen Tante sprachen. Kleinlaut schaute ich auf das Hoffenster und auf den Kamin mit dem mannshohen goldgerahmten Spiegel, der mir eine Person mit verschreckten Zügen zurückwarf. Wieder starrte ich auf mein Gepäck. Es wirkte vernutzt. Das Gepäck wie der Inbegriff der Erschöpfung. Es dunkelte vor dem Fenster. Mir war, wie wenn das Licht stufenweise nachließe, und nun dachte ich, wie, wenn es nicht das Tageslicht, sondern das Augenlicht wäre, das am Verlöschen ist. Schon sah ich mich mit vorgestreckten Händen nach dem Ausgang tappen und draußen nach dem Treppengeländer tasten. Um Hilfe schreien. Oder wenn das Herz versagte? Sieh nicht so herum, rühr dich. Ich wagte ja nicht einmal den Mantel auszuziehen. Ich nahm den Schlüsselbund von dem kleinen Tisch neben dem monumentalen Fauteuil und schickte mich an, die Wohnung zu verlassen. Ich schloss ab, nahm die Treppenstufen energischen Schritts – um mir Mut zu machen?

Jedenfalls wollte ich vor der Conciergeloge nicht als Jammergestalt in Erscheinung treten.

Kaum auf der Straße, war das Bisschen Mut auch schon verbraucht. Ich überquerte die Straße und klebte mein Gesicht an das Schaufenster eines Werkzeuggeschäfts. Es waren die unmöglichsten, mir schien: unbrauchbarsten weil veraltetsten Geräte in der Auslage ausgestellt, gusseiserne Rätsel, und in dem düsteren Raum, in dessen Tiefe ich eine alte Frau mehr erraten als sehen konnte, was ein dichtgefügtes Durcheinander von weiteren Eisenwaren aller Größen zu sehen, eine wahre Überfülle davon. Ein Orkus.

Nebenan lag ein Kürschnergeschäft. Ganz nah am Schaufensterglas war auf einer Staffelei ein kolorierter Stich mit einer pelzgekleideten koketten Dame zu sehen, ich entzifferte den Titel: Das Fell der Forelle. Das Fell der Forelle?

Ich verdrückte mich in den Schatten, mit Schatten meine ich nicht die Schattenseite, sondern den Wunsch nach Unsichtbarkeit, Schutz. Lief den Boulevard entlang und bog in eine unansehnliche Seitenstraße auf der Suche nach einem Restaurant, ich sah ein portugiesisches, schritt vorerst daran vorbei, an jungen Kerlen vorbei, unternehmungslustigen, die plötzlich zu lachen anfingen, weil sie in einem Fenster eine junge Frau mit einer Katze stehen sahen, sie riefen, sieh nur die Katze, hast du die Katze gesehen, la chatte, die Fotze, ein Wortspiel, das ließ sie brüllen.

Hier waren Häuser und Läden schäbig, von einer betrüblichen Gesichtslosigkeit, wir waren ja in den Ausläufern der Stadt, gleich dahinter begann der Umfahrungsgürtel und danach die Autobahn. Ich verdrückte mich in ein winziges vietnamesisches Lokal mit nur eben vier fünf Tischen, das nach Soja und anderen asiatischen Zutaten roch. Ich aß, erst die Nems, die ich gehorsam in die Minz- und Salatblätter wickelte, bevor ich sie in das Sauceschälchen tunkte, umständlich und mechanisch, als hätte ich eine Aufgabe zu erfüllen, aß und kaute ich. Auf dem Rückweg merkte ich, wie ich die Schritte verlangsamte, verhielt. Nur nicht zurück. Ich lief rasch die Treppen zu nächsten Metro hinunter, um mich von dem fauligen Aufwind durchwehen zu lassen.

Wieder in der Wohnung, legte ich mich im Nebenzimmer auf das große Bett, angekleidet, in Mantel und Schuhen legte ich mich hin und fiel gleich in einen tiefen traumlosen Schlaf. Wachte mitten in der Nacht auf, zog mich aus und trug den Fernseher in das Schlafgemach. Die Krallen des Unglücks, murmelte ich, als ich nach Stunden peinigenden Wachliegens endlich den Schlaf nahen fühlte. Und „Das Fell der Forelle" dachte ich noch. Bevor ich einschlief.

Krallen des Unglücks war das erste, was mir nach dem Aufwachen am späten Morgen wieder einfiel. Würde ich das Niederschmetternde der Ankunft in einer Geschichte lesen, dann handelte es sich eben um eine einleitende Episode, und Handlung, nämlich Fortgang und damit Rettung wären nahe. Es war aber keine Geschichte, eine Geschichte wird eine Geschichte erst im Rückblick, es ist keine Geschichte, es ist blutiger Ernst, es ist JETZT, es ist die Falle, ging es mir durch den Kopf. Und beim Blick auf die Fremdkörper meiner unausgepackten Gepäckstücke murmelte ich: der Packen ist mir zu schwer, für meine Kräfte zu schwer geworden, ich kann die Last nicht mehr tragen. Last? Ich könnte ebenso gut sagen: Leid. Welches Leid?

Es war bestimmt nicht der Tod der Tante. Und die Wohnung atmete überhaupt nichts von Todesfall, sondern im Gegenteil den Moment ihres Aufbruchs in die Ferien. Sie hatte sich nicht die Mühe genommen aufzuräumen, sie war ja in der Gewissheit abgereist, in drei Wochen wiederzukommen; und dann war sie mitten im Urlaub vom Tod dahingerafft worden, wie man sagt.

Die Wohnung reproduzierte ein in der Hast des Aufbruchs angehaltenes und verewigtes Tantenleben. Bei der geschwungenen Kommode im Stil Louis XV mit der geäderten Marmorplatte und den Einlegearbeiten, Intarsien, im hellen Holz war eine Schublade vorgezogen; und auf dem Fauteuil neben dem mit ungeöffneter Post überhäuften Tischchen lagen Strümpfe. Auf dem Esstisch war das schmutzige Frühstücksgedeck stehengeblieben, darunter ein Lippenstift. Im Schlafzimmer nebenan mit dem großen Bett und den auf dem Sims des Cheminées gestikulierenden weißen Nippfigürchens stand ein zweiteiliger leicht bauchiger Schrank mit einer Hängevorrichtung für Kleider im höheren und Schubladen im niedrigeren Teil. An der Hängevorrichtung hingen Kleider, Kostüme, Pelze, sogar ein Fuchspelz mit ausgestopftem Kopf, dessen Gebiss dem Schwanz ins buschige Ende beißen konnte, war darunter. In den Schubladen ein Gewürge von Unterwäsche, Büstenhaltern, Schlüpfern. Für meinen Mantel war da kein Platz. Am Boden des Schranks eine Kartonschachtel mit Korrespondenzen, Kontoauszügen, Akten, Fotoalben, Agendas, darunter ein mit farbigem Bändel zusammengehaltenes Briefbündel – Privatsachen.

Ich stand in dem Tantennachlass wie in einer Arrestzelle. Lief zum Klosett gleich neben dem Eingang, dem einzigen einigermaßen geräumigen Örtchen in der Wohnung, und setzte mich im Finstern hin. Ich laufe aus wie ein lecker Behälter. Ich sprang auf. Auf der Suche nach einer Waschgelegenheit entdeckte ich am Ende des Flurs die winzige Duschkabine mit dem trüben Plastikvorhang. Und nebenan die ebenfalls winzigkleine Küche mit dem vor Schmutz klebrigen zweilöchrigen Gasherd, dem vorsintflutlichen Durchlauferhitzer, den paar Pfannen und Gewürzen auf Wandregalen, dem Spülbecken, dem Wandkalender über dem Spülbecken, dem kremfarbenen Korpus für das Geschirr. Auf dem Korpus ein hartgewordenes Steckenbrot.

Ich merkte, wie die Möbel und Dinge mich anfremdeten, wie sie mich zu bedrängen, aus der Wohnung zu drängen schienen, und sagte laut: Ich habe hier nichts verloren. Ich hatte hier nichts zu suchen. Ich schwitzte. Und während die Panik in mir hochkroch, fühlt ich gleichzeitig den Puls eines unsinnigen Glücksversprechens, einen Puls, der, kaum merklich, in mir zu pochen anhob. In den Schwaden der finstersten Niedergeschlagenheit das Irrlicht oder Glühwürmchen eines Glücks: als wenn das Buch meines Lebens sich öffnen und ich das erste Wort lesen könnte.

Paul Nizon, geb. 1929 in Bern, lebt in Paris. Aus dem unveröffentlichten Manuskript „Das Fell der Forelle" liest Nizon am 19.9. um 20 Uhr auf der Alten Probebühne des BE.

Nizons Beitrag findet sich neben Texten von Richard Ford, Lars Gustafsson, Abdelwahab Meddeb, Stefano Benni, Dzevad Karahasan u.a. in dem von Ulrich Schreiber herausgegebenen Festivalkatalog „What am I ­ has become something different ­ what is there?", ab Anfang September erhältlich zum Preis von 10 Euro.

Bora Cosic

Die Euthanasie

Zum Bahnhof

in Amsterdam

fahren die Straßenbahnlinien

elf zwanzig fünf

genügend Taxis warten

es geht auch zu Fuß

alles ist leichter

seitdem die Verordnung

fürs freiwillige Sterben beschlossen wurde

sowieso gab es genug

der schönen Dinge

sowieso hat es lange genug gedauert

Anne Frank

mit Familie

wurde vom Laster der Wehrmacht abgeholt

damals war das

noch ungesetzlich

Der Schiffbruch

Das Kaffeehaus Krone in Zürich

ist noch nicht geöffnet

übt das erst ein

durch die Scheiben aus gegossenem Glas

beobachte ich das fließende Treiben drinnen

als schreite ich durch ein ozeanographisches Institut

die Kellner legen Löffel zurecht

sprechen wie taubstumm

wählen den Stil die Metrik das Prosodion

mit denen sie den Tag verbringen werden

Joyce sitzt in einer Ecke

untergegangen in der Tinktur der Weltliteratur

die Bläschen fliehen zur Decke hoch

das Ereignis von 1940

kämpft um Luft

dann schließt der Saalkellner auf

als hätte jemand mit der Axt

die Aquariumwand eingeschlagen

und die ganze einstige Welt

ergießt sich über den Platz Bellevue

ich gehe auf dem Trottoir

zwischen Resten dieses Seedramas

Krabben Taue Schuhe

vielleicht finde ich den Ring

von des Dichters Hand

(aus dem Serbischen von Irena Meyer-Wehlack)

EBora Cosic, geb. 1932 in Zagreb, lebt seit 1995 in Berlin.

Er liest am 18. September um 21.15 Uhr im BE-Pavillon.

John Tranter

Fünf Moderne Mythen

Die Guarani-Indianer von Paraguay

lassen gern einen kleinen Korken lose in ihren Spülmaschinen,

um einen „Geist der Leichtigkeit und Unvorhersehbarkeit

einzuführen in einen sonst monotonen Ablauf,

der den Göttern des Urwalds öde und unerfreulich

vorkommen müßte."

In Kota Rendang, einem kleinen Fischerdorf

an der Ostküste Malaysias, hüten sich die Holzschnitzer,

vor dem Kino am Ort auszuspucken,

da sonst „Clint Eastwood zornig werden

und unsere Messer stumpf machen könnte."

Bis vor kurzem schrubbten die Fischer in Muckle Roe

ihre Bootsplanken mit Zahnpasta

in der Nacht der Sommersonnenwende,

um die Fischgöttin Fiona zu beschwichtigen,

die „mit den schimmernden Zähnen".

Die Mongolen von Ulan Bator haben große Achtung

vor Zwergen, die auswendig gelernte Gedichte rezitieren,

in monotonem Singsang vor den Fernsehnachrichten,

die stumm im Hintergrund mitlaufen dürfen.

„Ein kurzer Reim hält schon die Nachricht fest": ihr Motto;

„hält fest" bedeutet hier auch „hält zurück",

„bewahrt in Grenzen der Anständigkeit".

Die Börsenmakler von Lakeville, Connecticut,

lassen am Dreizehnten sich ja nicht

beim Rasenmähen erwischen, da sonst

„die weiße Hexe von Lakeville", ein Wassergeist,

die Leberzirrhose ihnen anhängen könnte.

(Aus dem Englischen von Wolfgang Held)

John Tranter, geb. 1943 in Cooma (Australien), lebt heute in Sydney.

Er nimmt am 13. September um 20.45 Uhr auf der Alten Probebühne des BE und am 14. September um 18 Uhr im BE-Pavillon an der „Poetry Night I" teil.

© scheinschlag 2002
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 07 - 2002