Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kassel, offene Stadt

Alle fünf Jahre: das Hoffen auf die große, phantasmatisch aufgeladene Öffentlichkeit

In Kassel bin ich erst zwei Mal gewesen. Zur documenta IX und zur documenta X. In diesem Sommer steht mein dritter Besuch in Kassel an. Am 8. Juni ist dort die documenta XI eröffnet worden. Und sehr viele andere Anreize hat die nordhessische Stadt, die, wie man hört, 2010 europäische Kulturhauptstadt werden und also Aufsehen auch jenseits der documenta erregen will, ja auch nicht zu bieten. Immerhin fällt mir noch das Museum für Sepulkralkultur ein, und seit René Block im Museum Fridericianum Ausstellungen inszeniert, könnte auch dieses Haus in der documenta-freien Zeit einen Besuch wert sein.

In diesem Sommer werden sie jedenfalls wieder alle in die Stadt strömen, die sich seit kurzem sogar offiziell „documenta-Stadt" nennt. Daß sich die Bewohner der Stadt mit der wohl wichtigsten Großausstellung für zeitgenössische Kunst identifizieren würden, kann man nicht sagen; aber daß es sich bei dem Ereignis um einen nicht zu vernachlässigenden Wirtschaftsfaktor handelt, hat man dort mittlerweile begriffen.

Kassel ist nicht die einzige Stadt, die nur zeitweise ins Blickfeld einer Öffentlichkeit rückt: Auch Salzburg versinkt außerhalb der Festspielzeit in provinzielle Bedeutungslosigkeit. Allerdings reißt der Touristenstrom dort in der festspielfreien Zeit nie ganz ab; zudem sind die Intervalle zwischen den spektakulären Veranstaltungen kürzer. Kassel hat eine Durststrecke von immerhin fünf Jahren zu überbrücken. Martin Kaltwasser, der an der Kunsthochschule Kassel ein Seminar über „städtisches Handeln" anbietet, spricht von einer turnusmäßig wiederkehrenden „documenta-Ausnahmesituation". Aus der alltäglichen Stadt werde ein „temporäres Zentrum". Alle fünf Jahre eine Chance für Kassel, das heißt: Diese Chance muß auch genutzt werden, es muß während der 100 Tage genügend Geld in die Kasse kommen. Immerhin lastet auf dem Großereignis ein enormer finanzieller Druck: 50 Prozent des Budgets müssen durch Eintrittskarten erwirtschaftet werden. Doch nicht nur Hotellerie und Gastronomie der Stadt wollen von der documenta profitieren. Eine Vielzahl von Initiativen und Einzelpersonen möchten aus den Besucherströmen und der Medienaufmerksamkeit ebenfalls Gewinn ziehen. Matze Schmidt, Medienaktivist (n0name-Newsletter) und selbst stark involviert in verschiedene Projekte an der documenta-Peripherie, spricht von „Groß-Ausstellungs-Surfing". Alle hofften nun auf die große phantasmatisch aufgeladene Öffentlichkeit und unterstützten sich mit Dingen, von denen sie fünf Jahre nicht gewußt haben, daß sie sie hatten. Einige dieser am Rande der documenta geborenen Projekte sind sogar in das offizielle documenta-Beiprogramm aufgenommen worden. Andere, wie das Haus Köbberling, nicht. Matze Schmidt hält das für eher zufällig, denn Initiativen, die sich explizit gegen die documenta richten würden und der großen Kunstschau ans Bein pinkeln wollten, scheint es gar nicht zu geben. Zwar ist allenthalben davon die Rede, „Institutionskritik relokalisieren" zu wollen; wie das freilich zu leisten wäre, scheint unklar. Wenn man mit Kennern der Kasseler Situation spricht, bekommt man Kritik eher an Details zu hören, etwa daran, daß eine didaktische Vermittlung, wie sie weiland Bazon Brock mit seiner Besucherschule versucht hat, zu kurz komme oder daß Kassel, der Ort des Geschehens, zu wenig einbezogen werde. Die Arbeit Thomas Hirschhorns, in die der documenta-Teilnehmer Kasseler Migrantenkinder einbeziehen will, wird da eher als Alibi eingestuft. Andererseits könnte man einwenden, Venedig sei für die Biennale ja auch nicht unbedingt mehr als der Austragungsort ­ man ärgert sich dort über die hohen Hotelpreise und genießt im übrigen die Stadt. Harald Szeemann, der beide Großausstellungen bereits geleitet hat, meinte dazu einmal lapidar, in Venedig gehe er lieber spazieren als in Kassel. Die große Linie Okwui Enwezors, den eurozentrischen Blick unserer Gegenwartskunst-Diskurse zu überwinden, mag natürlich auch niemand kritisieren; und an der Liste der eingeladenen Künstler ist noch jedes Mal herumgemäkelt worden. Ein meta-kritischer Diskurs wird nicht geführt.

Fotos: Jörg Grüneberg

Was verbindet nun diese ganzen Projekte, die keine Frontstellung gegen die Großausstellung eint? Verbindet sie überhaupt etwas? Das Stichwort heißt „open space". Aus dem ­ damals documenta-offiziellen ­ Projekt Open Space in der Orangerie 1997 sind einige wichtige Initiativen, wie etwa „Kein Mensch ist illegal", erwachsen. Ein solcher open space wollen in diesem Sommer das „Bateau Bleu", das an der Fulda vor Anker geht, und das Haus Köbberling in der Kasseler Schillerstraße sein. Der Zufall wollte es, daß der Elektroladen, der im Januar aufgegeben wurde, just in diesem Sommer leersteht, weil sich noch keine Käufer gefunden haben. Kein untypischer Fall für die Kasseler Nordstadt ­ ein sogenanntes Problemviertel ­, in dem viele Ladenlokale leerstehen. Folke Köbberling nutzt die Chance, um im Laden ihres Vaters einen Ort der Kommunikation zu etablieren.

An das Haus Köbberling „docken" auch Almut Jürries, Matze Schmidt und Sebastian Stegner mit ihrem Projekt 3dos an: Vorträge, Gespräche, Konzerte wollen sie dort organisieren, „ganz simpel". Es gibt eine Vernetzung mit dem Freien Radio Kassel und mit der Kunsthochschule, und es soll ein Themenspektrum zwischen elektronischer Kultur und Stadtpolitik beackert werden. Es gibt in Kassel anscheinend Raum für solche Unternehmungen, jedoch kein Geld, offizielles nicht und auch keines von der Kunsthochschule. Entstehen soll so ein „semipermeables Spontanprogramm". Man hofft auf die Leute, die ­ documenta-bedingt ­ sowieso in der Stadt sind: als Vortragende, Diskussionsteilnehmer und Besucher: „Wir benutzen die documenta."

„Safer City", ein in Kassel beheimatetes Projekt, das es sich zur Aufgabe macht, die zunehmende Überwachung des öffentlichen Raums zu thematisieren, wird auch präsent sein. Und dann ist da noch eine Gruppe von österreichischen Künstlern („Sabotage"), die es sich vorgenommen hat, während der documenta-Zeit in Kassel 70000 Cannabis-Pflanzen auszusetzen. Warum auch nicht?

Es ist nicht absehbar, ob in Kassel etwas passieren wird in diesem Sommer, und was. Die Räume jedenfalls sind vorhanden. Sie müssen jetzt nur noch genutzt werden. Alle Beteiligten sprechen von einer großen Diversität, ohne daß noch ganz klar wäre, um was es wirklich gehen soll. Globalisierungs- und Institutionskritik sind sicherlich Stichworte, die zumindest einen Teil der Aktivitäten treffen. Aber was wäre darunter zu verstehen? „Open Space/Open Content" ist das Motto eines Seminars, das im Haus Köbberling präsentiert werden soll.

Florian Neuner

Informationen direkt im Haus Köbberling, Schillerstr. 28 in Kassel,

oder bei: Freies Radio Kassel/Frequenz 105.8 MHz/Kabel 95.8 MHz, und: Airportgalerie, Wolfhagerstr. 109 R1, Kassel

www.haus-koebberling.de

www.n0name.de

www.safercity.de

www.thething.inkassel.de

www.sabotage.at

www.c-io.de

www.haus-kassel.de

www.bateaubleu.de

www.neoneo.org

http://documenta.cyberday.de/kuenstler.php3

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