Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Junge mit dem Drachentattoo

Schwul in Beijing: ein Blick von außen

Der vorletzte chinesische Kaiser soll schwul gewesen sein; Zhou Enlai, dem Weggefährten Maos, wird das auch nachgesagt. Ein Reiseführer gibt seiner homosexuellen Klientel folgende Ratschläge mit auf den Weg: Kein Problem sei es, wenn in China zwei Männer ein Hotelzimmer teilten. Das errege deshalb kein Aufsehen, weil die meisten Chinesen sich so etwas wie Homosexualität gar nicht vorstellen könnten. Gewarnt wird freilich davor, sich in der Öffentlichkeit irgend auffällig zu verhalten; chinesische Gefängnisse seien ungemütlich. Ein Reiseziel für schwule Sextouristen ist China jedenfalls nicht. Noch nicht? Birgit Zinzius, die ihren Lesern die fremden Sitten des Landes näherbringen will, imaginiert in ihrem China-Buch ein merkwürdiges Szenario: Aufgrund der Ein-Kind-Politik, die zur Abtreibung einer großen Anzahl weiblicher Föten führe, werde der männliche Bevölkerungsanteil immer höher; China, so folgert Zinzius, werde sich zu einer homosexuellen Gesellschaft entwickeln.

Es soll allerdings auch heute schon Männer geben, die sich ­ obgleich derzeit noch genügend Frauen für sie da wären ­ zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen. Wo findet man die aber in der Hauptstadt Beijing? In der Boomtown mit ihren zwölf Millionen Einwohnern, die wohl zu den häßlichsten Städten der Erde gezählt werden darf ­ Potsdamer Platz, so weit das Auge reicht ­, gibt es gerade mal drei, vier schwule Kneipen. Und die werden, wie neulich die „Dragon Bar", häufig von einem Tag auf den anderen geschlossen. Es heißt dann, eine nicht erteilte oder verlängerte Ausschanklizenz sei die Ursache. Das behauptet zumindest der Typ aus Shanghai, der demnächst in die kommunistische Partei eintreten will und sich schon mal in Apologetik übt. Also strömt in diesen Tagen alles in die „Half Bar". In Einrichtung und Ambiente erinnert die Kneipe an Osteuropa. Es heißt, die jungen Kellner seien gegen Bezahlung auch zu sexuellen Dienstleistungen bereit. „Moneyboys", die hier ganz offen ihre Dienste anbieten, gibt es (noch) nicht; grauslichen Karaoke-Gesang dafür kostenlos. In der Half Bar verkehren auffallend viele Europäer und Amerikaner. Ein Geschäftsmann aus Chicago zählt zum Inventar. Es heißt, er habe sich nach Beijing versetzen lassen, weil er auf Asiaten stehe. Dann spricht uns ein Student in gebrochenem Englisch an, der bei uns Ausländern einen Erfahrungsvorsprung vermutet. Ob man sich Aids durch die Luft in Schwulenkneipen holen könne. Nein, keine Sorge. Er spricht von „true love", die es auch unter Männern geben könne, die er aber mit Sex nicht in Verbindung bringen mag.

Im Badehaus, das als Geheimtip gilt und von alternden Amerikanern weitgehend verschont bleibt, geht es ­ wenn auch nicht offiziell ­ nur um Sex. Rund um die Uhr geöffnet, ist das ein Ort, an dem man übernachten kann. Das tun viele Männer in den ausgedehnten Ruheräumen auch. Der hinterste Teil, erfahre ich von meinem Begleiter, sei bis vor kurzem durch einen Vorhang abgetrennt gewesen, und dort sei es dann zur Sache gegangen. Jetzt läuft alles etwas verschämter ab. Es kommt aber schon vor, daß jemand auf die Liege des Nebenmannes rutscht, wie der Taiwanese, den ich hier kennenlerne. Das Personal, das auch Massagen anbietet, sieht und toleriert das. Zentrum des Geschehens ist aber das Dampfbad, eng und eigentlich zu hell. Es vergeht nicht viel Zeit, bis sich jemand neben einen setzt und ohne Umschweife an den Schwanz greift. Mehr als ein hektisches Herumgewichse ist aber nicht drin, immer wieder unterbrochen von nervösen Blicken zur Tür, ob nicht jemand eintrete, der die Szene mißbilligen könnte. Nur der Junge mit dem Drachentattoo auf der Schulter war hemmungsloser, und scheute nicht davor zurück, mir im großen Wasserbecken, vor den Augen aller, die Brustwarzen zu lecken. Der war aber merklich alkoholisiert.

Wo jedoch die Massen der Beijinger Schwulen sind, ob es sie überhaupt gibt, können mir auch die Ausländer, die hier schon seit Jahren leben, nicht sagen.

Florian Neuner

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