Ausgabe 06 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Mono-Instrumentalismus

Bemusterungs-CDs werden normalerweise in lieblosen und schlabberig gepolsterten A4-Umschlägen zugestellt. Anders diese: ein knallgelber, quadratischer und paßgenauer Umschlag, frankiert mit drei 56-Cent-Briefmarken, auf denen jeweils ein auseinandergezogenes Akkordeon zu sehen ist. Titel des Motivs: VOLKSMUSIK. Inhalt des geschmackvollen Briefchens: eine CD mit dem Titel Asthmatic Worm (Mobilé). Asthmatischer Wurm war der Spitzname des Akkordeons im 19. Jahrhundert. Längst hat sich das Akkordeon aus der langweiligen Umklammerung der deutschen Volksmusik gelöst, und auch muß es nicht immer Tango sein. Neben den Stilerweiterungen der Avantgardeakkordeonisten von Attwenger, die mit Punk und Hip Hop experimentierten, ist es vor allem die Form des gedubbten Akkordeons, die für eine Renaissance des Instruments sorgt. Ob nun das kleine geschmeidige Bandoneon wie beim Gotan Project oder wie bei Hey die mundgeblasene Version des Akkordeons, die Melodica, zum Einsatz kommt ­ immer fasziniert das Organische und Atmende des Instruments. In welcher Variation auch immer: Asthmatic Worm ist voll von warmen und tiefen Inspirationsschleifen um dieses Instrument.

Eine ähnliche Begeisterung löst seit Jahren ein anderes Instrument aus – die Hammond-Orgel. Wie beim Akkordeon ist es auch bei der Orgel der grundsätzlich weiche Klang des analogen Tastenkastens, der diese Atmosphäre von Couch, Flokati und Lounge hervorruft. Und wie beim Akkordeon dauerte es auch bei ihrem Bontempi-Sound eine ganze Weile, bis er sich aus dem langen Schatten des One-Man-Tanzkapellen-Daseins löste. Vor allem über den Umweg der Filmmusik italienischer und französischer B-Movies entwickelte sich die Orgel mehr und mehr zu einem Psychodelic-Pop-Multitalent. Genau diese Vielfältigkeit gibt The Men from O.R.G.A.N. (Shado Records) wieder: Eine Zeitreise von Mitte der Siebziger bis heute, auf den Spuren des entspannten Understatements. Ob in der Hitze der Nacht oder im schwülen Dimmer von Sommernachmittagen: Organ geht immer.

Marcus Peter

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  Ausgabe 06 - 2002